5. Orlen Warschau Marathon

23.04.2017

Vorgeschichte

Wann sind ALLE Familienmitglieder der Speedy Family echte Marathon-Finisher? - Mein Debüt liegt schon 6,5 Jahre zurück. Das Debüt meines Vaters beim München Marathon 2012 folgte knapp zwei Jahre später. Meine Mutter und meine Schwester Nicole hatten aber diesbezüglich ganz unterschiedliche Pläne: während meine Mutter sehr lange Zeit sagte, sie würde NIE einen Marathon laufen wollen oder können, war sich Nicole sicher, sie wolle ihr Debüt in London geben. Beide Vorstellungen waren eher unwahrscheinlich. Erstens waren wir uns sicher, dass auch meine Mutter irgendwann der Versuchung nicht widerstehen könnte, und zweitens wäre ein Start in London als Ausländer fast nur in Kombination mit einem teuren Reisepaket möglich.
Und so vergingen ein paar Jährchen bis meine Mutter im Internet sah, dass ihre Cousine beim 4. Orlen Warschau Marathon 2016 eine sehr schöne, goldene Medaille mit den Umrissen Polens abstaubte. Das war dieser eine Moment, der gefehlt hat. Ab jetzt war sie Feuer und Flamme, denn was ihre Cousine kann, kann sie als langjährige Läuferin auch. Außerdem wollte auch sie unbedingt so eine schöne Medaille in ihrer Sammlung. Die finale Entscheidung zu einem Start beim 5. Orlen Warschau Marathon 2017 war jedoch ein schleichender Prozess.
Im Laufe des Sommers 2016 entschied sie sich - wenn überhaupt - nur im Frühjahr bei einem Marathon starten zu wollen, da ihr das lange Training in den kühleren Monaten des Winters und Frühlings einfacher fallen würde. Zudem wollte sie unbedingt eine sehr große Veranstaltung an einem besonderen Ort wählen, da nicht abzusehen ist, ob es eventuell bei nur einem Marathon in der Karriere bleiben würde. Mit der Zeit kam das eine zum anderen und die Wahl fiel endlich auf Warschau im April 2017.
Auch ich sagte sofort ‚Ja‘ und freute mich auf meinen ersten Marathon in Polen, meinem zweiten Heimatland. Das Datum stand zwar noch nicht fest, aber für eine konkretere Planung hatten wir noch genug Zeit. Doch was war nun mit meiner Schwester Nicole? Möchte sie sich diesen Plänen anschließen oder nach wie vor nach anderen Orten für ihr Debüt schauen? Konnte sie es sich ebenfalls im Jahr 2017 schon vorstellen? Nach mehreren Tagen und Nächten freundete sie sich mit dem Gedanken an, das Familien-Event auch für ihr Debüt zu nutzen. Die polnische Hauptstadt Warschau war ihr bereits aus einigen Kurztrips bekannt und sie mochte die Metropole sehr gern, sodass es eine gute Alternative zu London & Co. zu sein schien.
Nur kurze Zeit nach Nicoles Entscheidung sagte auch mein Vater ‚Ja‘ zu einem zweiten Marathon auf seiner Liste und so stand uns etwas Historisches bevor: die GANZE Speedy Family läuft Marathon! Aber keine Staffel, sondern jede(r) für sich. Insgesamt 168,78 Kilometer! Wow!

Nun warteten wir aber leider noch viele Monate bis endlich am 30.11.2016 final bekannt wurde, dass der 5. Orlen Warschau Marathon im Jahr 2017 überhaupt stattfinden würde. Zuvor gab es immer nur vereinzelte Informationen und nie konkrete Angaben, was zu Gerüchten und Zweifeln geführt hat. Zum Glück wurde dann aber 143 Tage vor dem Tag X die Anmeldung freigeschaltet.
Nur drei Tage später saßen wir in der neuen Wohnung von Nicole und Tobi in Münster, alle etwas müde von dem anstrengenden Umzug, und doch bereit dafür, endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Wir meldeten uns an! In einem sehr komplizierten Prozess aus unterschiedlichen Anmeldungen und Überweisungen dauerte es mindestens eine Stunde, bis alle angemeldet waren. Für den fairen Preis von 89 Zloty (ca. 22 €) sollten wir neben der Starterlaubnis, einer Startnummer und einer schönen Finisher-Medaille auch ein Funktionsshirt erhalten. Das klang nach einem super Angebot.

In den folgenden Wochen arbeiteten alle gemeinsam an einem Trainingsplan für meine Eltern und Nicole. Dieser wurde dann natürlich extra groß und farbig ausgedruckt und in der Küche prominent an die Pinnwand geheftet. Während meine Family Anfang des Jahres 2017 konkret mit dem Trainingsplan begonnen hat und sich im Vorfeld ganz vorbildlich zwei Wettkämpfe über 10 und 21,1 km ausgesucht hatte, verfolgte ich mit meinem 17er-Projekt (d.h. 17 Marathons im Jahr 2017) eine ganz andere Taktik. Ich sammelte auf dem Weg bis Warschau noch 5 weitere Marathons (zwei davon sogar kurze Ultras) und setzte die polnische Hauptstadt als erstes kleines Jahres-Highlight fest.
Zum Glück blieb ich von Verletzungen verschont und auch meine Family hatte bis auf kleine Wehwehchen nichts zu vermelden. Lediglich mein Vater hatte mit ein paar größeren Trainingsausfällen zu kämpfen. Grund hierfür waren Wunden an den Füßen, die durch trockene Haut entstanden sind und nur schlecht behandelt werden konnten. Dennoch haben es alle geschafft, bis kurz nach Ostern einigermaßen gesund und fit zu bleiben. Ich war stolz auf uns!

 

Freitag, 21.04.2017

Nachdem ich schon Donnerstagabend von Hamburg zu meiner Freundin nach Laggenbeck gefahren bin und wir noch einen kurzen Abend zu zweit genossen haben, versuchten wir am Freitagmorgen so lang wie möglich Schlaf nachzuholen. Die Arbeits- und Uni-Woche war für uns beide recht anstrengend und in den letzten beiden Tagen folgten organisatorischer Stress und Nervosität. Dadurch habe ich eine Kleinigkeit durcheinander gebracht, die am Freitagmittag für zusätzliche Aufregung gesorgt hat:
Ich hatte unsere Abflugzeit am Kölner Flughafen gedanklich mit 18:50 Uhr abgespeichert. Tatsächlich sollten wir jedoch schon um 18:05 Uhr abheben. Ursprünglich hatten wir uns mit meinen Eltern, die uns an der Autobahnauffahrt bei Rheine einsammeln sollten, für 13:45 Uhr verabredet. Eine knappe Stunde vor unserer geplanten Abfahrt fiel mir dieser Irrtum erst auf, wodurch sich diese knappe Stunde schnell auf 10 Minuten verringerte. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch nicht gefrühstückt und liefen noch in Pyjama durchs Haus. Hektik machte sich breit und Sophie und ich legten in allen Dingen den Turbo ein. Vorab informierte ich meine Eltern telefonisch darüber, dass wir uns früher treffen sollten. Um 13:10 Uhr trafen wir dann am vereinbarten Treffpunkt ein und erst im Auto meiner Eltern konnten wir wieder ein wenig zu Atem kommen … und frühstücken.
Da Nicole und Tobi schon zwei Tage zuvor Richtung Warschau losgeflogen sind, konnten sie uns von vollen Straßen und Baustellen berichten. Und da wir an einem allseits beliebten Freitagnachmittag fuhren, war ein entsprechend großer Puffer eingeplant. Zum Glück brauchten wir diesen nicht und so kamen wir ca. 15:00 Uhr in Köln-Porz an, wo wir an der dortigen S-Bahn-Station das Auto abstellten und die letzten 5 Minuten bis zum Flughafen mit der Bahn zurücklegten. Das ersparte uns einen wesentlich teureren Parkplatz am Flughafen.
Dort angekommen hatten wir noch knapp 2,5 Stunden, in denen wir einerseits unsere vielen Reste auffutterten und austranken und andererseits Zeit im Duty-Free-Shop und im Café verbrachten. Pünktlich um 17:30 Uhr erreichten wir das Gate und freuten uns schon auf den Flug, der symbolisch einen großen Schritt Richtung Marathon darstellte.
Generell war das Thema „Marathon“ allgegenwärtig und kam alle paar Minuten erneut zur Sprache. Tapfere Sophie, die in unserer Runde am wenigsten damit zu tun hatte und dennoch voll im Thema war und sich super auskannte. Es wurden nicht nur Taktiken für Sonntag besprochen, sondern auch die Abläufe und Aufgaben am Samstag, die Vorfreude und Aufregung aller Beteiligten und nicht zuletzt „die Zeit danach“. Schaffen es alle? Werden alle glücklich ins Ziel kommen? Es folgten Fragen über Fragen, die manchmal nur so Verrückte wie wir sich stellen können.

Pünktlich um 18:05 Uhr rollte der Flieger dann los, in dem Sophie und ich leider durch den Mittelgang getrennt saßen. Natürlich hielten wir uns beim Start an den Händen, bevor ich danach während des Flugs mehrmals für ein paar Minuten die Augen geschlossen und geschlafen habe.

In Warschau-Modlin landeten wir um 19:50 Uhr, wo uns mein Cousin Maciek mit seinem Auto abholte. Kurz danach ging es über 40 km rasant in die Innenstadt von Warschau, wo Maciek vor Kurzem eine eigene Wohnung bezogen hat. Diese wirklich schicke 70 m² große Bude in einem Neubau mit Blick auf den Kulturpalast wurde von allen mit großen Augen bestaunt. Dazu hatte Maciek drei große Familienpizzen bestellt, die wir uns gemeinsam mit Nicole und Tobi zu siebt teilten. Ein kleines Bierchen durfte zum Anstoßen natürlich auch nicht fehlen und so machten wir uns erst gegen 22:00 Uhr auf den Weg in unser eigenes Appartement im Zentrum der Stadt.
Unsere Unterkunft für die nächsten zwei Nächte bestand aus einer kleinen Küche mit angrenzendem Wohn- und Esszimmer, in dem ein Klappsofa stand, zwei kleinen Schlafzimmern und einem kleinen Badezimmer. Da meine Eltern voraussichtlich am kürzesten schlafen würden, bekamen die Kinder jeweils ihr eigenes Schlafzimmer. Da Nicole und Tobi die Schlüssel schon im Laufe des Tages abgeholt hatten, durften sie selbstverständlich auch das größere von beiden bekommen.

Samstag, 22.04.2017

Da wir aufgrund der Reise alle etwas angeschlagen waren, zog es uns sehr bald ins Bett, wo wir am Samstagmorgen auch bis ca. 09:00 Uhr ausschlafen durften. Daraufhin machten wir uns in Ruhe fertig, bevor es um 09:45 Uhr zu Fuß Richtung Kulturpalast ging. Nicole hat einen Geheimtipp für einen netten Ort zum Frühstücken erhalten, wo wir pünktlich zur Eröffnung um 10:00 Uhr ankamen. Das Restaurant hieß „Słoik“, was übersetzt „Einmachglas“ bedeutet. Die Einrichtung entsprach diesem Namen und so genossen wir in aufregender Atmosphäre ein sehr extravagantes und reichhaltiges Frühstück. Natürlich mit Kaffee.

 

Nach dem Essen zog es uns nochmal zum Kulturpalast, dem Wahrzeichen der Stadt, vor dem wir noch ein paar weitere Fotos knipsten. Erst danach sah unsere Tagesplanung vor, zur Marathon-Expo zu fahren, wo wir uns einen Überblick über das Gelände verschaffen und nicht zuletzt unsere Startnummern abholen wollten. Der erste Eindruck, als wir aus der Metro-Station „Warszawa Stadion“ gestiegen sind, war gewaltig. Mir kamen die Fläche und Wege extrem groß und lang vor. Fast schon zu groß und zu lang, wenn man mich fragt, denn der Berlin Marathon hatte ähnliche Ausmaße, jedoch für viermal so viele Teilnehmer.
Nichtsdestotrotz gehört diese pompöse Größe inklusiv dem PGE Stadion Narodowy im Hintergrund einfach zu einem Hauptstadt-Marathon dazu. Egal, was ich als alter Hase dazu sage - für unsere Debütantinnen war es genau das Richtige.

Beim Betreten der Messehalle, in der es zum Glück wärmer als draußen war, entschieden wir uns dafür, zuerst die Startunterlagen abzuholen, bevor es auf Schnäppchenjagd ging. Die Startnummern galt es am hinteren Ende der Halle abzuholen, sodass wir auf dem Weg dahin doch den einen oder anderen Stand abgeklappert haben. Unter anderem weckte der Asics-Stand unser Interesse, da man dort seine gewünschte Zielzeit auf ein Armband drucken lassen konnte. Ich entschied mich für ambitionierte 02:43:30 Stunden, was Bestzeit bedeuten würde, jedoch war ich mir recht sicher, dass aus diesem Vorhaben nach den letzten zwei Marathons in nur vier Wochen und dem Sightseeing am heutigen Tag nichts werden würde. Aber man darf ja noch träumen.

Das Abholen der Nummern stellte sich anschließend als unnötig langwierig heraus. Zunächst erlitt meine Mutter einen kurzen Schock, als sie am Service-Schalter vergeblich ihre Nummer erfragen wollte. Sie schien nicht im System zu sein. Das Problem lag jedoch in der Schreibweise unseres Nachnamens mit deutscher Tastatur, bei der das „ń“ fehlt. Dieses kommt im Polnischen üblicherweise in unserem Namen vor.
Als dann Klarheit herrschte, musste sich jeder von uns durch ein Formular lesen, dieses anschließend unterschreiben und sich noch ein paar Hinweise anhören. Nach jeweils über 5 Minuten hatten wir dann endlich unsere Kleiderbeutel, Nummern, Event-Shirts und Gutscheine in der Hand.
Da uns außerdem gesagt wurde, wir dürften unsere kleinen Koffer nicht mit zum morgigen Marathon und der dortigen Gepäckabgabe mitbringen, fingen wir zu Planen an und überlegten, wo wir unser Gepäck nach dem Auschecken lassen sollten. In die durchsichtigen Beutel passte es jedoch nicht. Aber dazu später mehr.

An einem weiteren Asics-Stand erstellten wir dann in voller Warschau-Marathon-Montur ein lustiges GIF. Die Frauen unter uns ließen noch mehr Fotos von sich knipsen und man merkte ihnen die Vorfreude an, was super schön anzuschauen war.

Meine Schwester Nicole schwärmte zudem von einem weiteren Veranstaltungsshirt, das unsere Eltern ihr dann schließlich spendieren wollten. Die Besonderheit war, dass sie es sich individuell bedrucken lassen konnte. Sie entschied sich für die knallige Farbe Gelb und einen Spruch auf dem Rücken, der deutlich machte, wo sie ihr Debüt gelaufen haben wird.

Um 14:20 Uhr machten wir uns wieder auf nach draußen und suchten nach dem kürzesten Weg zum Łazienki-Park, der größten Parkanlage in Warschau, in der die heutigen Warsaw Games ausgetragen wurden. Mitunter soll um 16 Uhr der sogenannte Marszobieg - ein 3 km langer Freundschaftslauf - stattfinden, für den wir uns allesamt im Vorfeld angemeldet haben. Insgesamt sollten bis zu 3333 Läufer teilnehmen, die auf einer kurvenreichen Route durch und um den Park herum geführt werden sollten. Es handelt sich somit um keinen Wettkampf und ähnelt dem Brezellauf, den ich in Frankfurt vor meinem Debüt hatte, und dem Trachtenlauf in München, an dem wir vor dem Debüt meines Vaters teilgenommen haben.
Leider war der Weg etwas mühsam, da die öffentlichen Verkehrsmittel sehr ungünstig fuhren bzw. wir uns zu schlecht auskannten. Aus diesem Grund folgte ein gut 2 km langer Fußmarsch, den wir mit Brötchen als Zwischensnack zurücklegten. Im Park angekommen, war es zum Teil sehr unübersichtlich, sodass wir es erst gegen 15:30 Uhr zur T-Shirt-Ausgabe geschafft haben. Diese schönen, blauen Shirts mit der Aufschrift „Biegam bo lubię“ (deutsch: Ich laufe weil ich’s mag) waren, genau wie der Freundschaftslauf, komplett kostenlos - super Sache!

Die Kulisse um die verschiedenen kleinen Sport-Events des Tages, die hauptsächlich für Kinder angeboten wurden, war atemberaubend schön. Allein aus diesem Grund sollte sich ein 3 km Läufchen durch diesen schönen Park lohnen. Dennoch grübelten wir alle ein wenig, ob wir den Lauf mit unseren müden Beinen überhaupt noch laufen sollten. Während mein Vater eine Teilnahme aufgrund seiner schmerzenden Füße definitiv ausgeschlossen hat, wollte meine Mutter auf jeden Fall starten. Wir „Kinder“ entschieden uns eher spontan und wollten nur mitlaufen, wenn wir uns auf ein normales Walking-Tempo einigen würden. Immerhin hatten wir für 3 km ganze 45 Minuten Zeit.
Pünktlich um 16 Uhr ging es nach einem kurzen Aufwärm-Programm auf die Strecke. Beim Überlaufen der Startlinie entdeckte jemand von uns am rechten Rand eine scheinbar prominente Sportlerin, die die Teilnehmer abklatschte. Und tatsächlich, es handelte sich nämlich um die zweimalige Olympiasiegern (2012 und 2016) und Weltrekordhalterin (82,98 m) im Hammerwerfen Anita Włodarczyk. Innerhalb einer Sekunde entschied sich mein Körper dazu, die Strecke umständlich diagonal zu kreuzen, um sie ebenfalls abzuklatschen. Und ich merkte, dass da ordentlich Kraft in ihrem Arm steckte, Respekt.
Anschließend widmeten wir unsere Aufmerksamkeit dem Geschehen auf der Strecke - stets im Blick, wie weit entfernt der Besenwagen war. Nett plaudernd und völlig entspannt ging es quer durch den Park, dann im nördlichen Teil außen herum und nach knapp 45 Minuten zurück ins Ziel.

Im Ziel erwarteten uns doch tatsächlich echte Finisher-Medaillen. Damit habe ich gar nicht gerechnet, wow! Zudem gab es so viele Wasser- und Iso-Flaschen der Marke OSHEE wie wir haben und tragen wollten. Die Bestellung für dieses Wochenende schien unheimlich groß gewesen zu sein.
Nachdem wir meinem Vater kurz von der Strecke berichtet haben, ging es für uns pünktlich zum einsetzenden Nieselregen zurück zur Marathon-Expo, wo in Kürze die Pasta-Party eröffnet sein müsste. Mittlerweile waren wir alle ganz schön platt und die Laune sank ebenfalls. Schade eigentlich, aber bei so großen Hauptstadt-Marathons ist das häufig so. Die wesentlich schlechtere Alternative wäre gewesen, dass wir uns in der Wohnung verkrochen und die Beine hochgelegt hätten. Das wäre der schönen Stadt Warschau nicht würdig gewesen.
Um 17:30 Uhr kamen wir nach einer kurzen Bus- und Tramfahrt wieder an der langen Zielgeraden des Marathons an, an der auch die Expo und das Zelt der Pasta Party lagen. Wie sich herausstellte, waren wir etwas zu früh dran, da die Pasta Party erst um 18 Uhr ihre Pforten öffnete.
Kurz vor 18 Uhr war es dann aber schon so weit und wir strömten zusammen mit anderen Hungrigen in den gesonderten Bereich des großen Zeltes. Unsere Vermutung bestätigte sich bald: die Pasta Portionen waren lediglich kleine Portiönchen. Satt konnte man davon kaum werden und wir vier Läufer brauchten meiner Meinung nach noch wesentlich mehr. Das war uns dann auch früh bewusst und trotzdem wollten wir diese „Party“ mit dem wohl schlechtesten DJ genießen.
Zur Auswahl gab es eine vegetarische Gemüse-Version und eine Variante mit relativ viel Hähnchenfleisch. Ich entschied mich für das Gemüse und dazu gab es noch etwas Obst in Form von Bananen, Äpfeln und Orangen. Leider gab es zudem nur Stehtische, was die Verweildauer in diesem Zelt sicher verringern sollte. Na gut, bei uns hat diese Methode zumindest funktioniert, denn lange sind wir nicht geblieben.

Um 18:15 Uhr waren wir schon wieder in der windigen Kälte vor dem Zelt und machten uns dick eingepackt auf den Weg zum Appartement. Unterwegs wollten wir noch ein paar weitere Nudeln und Soße kaufen, jedoch entschieden die Frauen, dass wir nörgelnden Männer lieber schon mal vorgehen sollten. Einverstanden.
In der Wohnung angekommen legten wir die Beine hoch oder setzten uns einfach erschöpft in eine Ecke. Vielmehr war mit uns nicht mehr anzufangen. Zwischendurch machte sich der eine oder andere frisch oder packte die Klamotten für den morgigen Tag zusammen. Und als die Mädels zurück waren und das zweite Abendessen gegen 21 Uhr gekocht war, saßen wir nochmal in Ruhe gemeinsam am Tisch.

Anschließend besprachen wir noch weitere konkreten Pläne: nach dem Auschecken wollten wir die Taschen und Koffer zu dem Büro bringen, wo Nicole und Tobi die Wohnungsschlüssel abgeholt hatten. Wir vier Läufer planten allerdings schon zum Marathon vorzufahren, da das Büro erst um 8 Uhr öffnen sollte. Außerdem haben wir die Punkte am Stadion und am Streckenrand besprochen, wo uns Sophie und Tobi vor und während des Laufes treffen konnten. Vereinbart wurde unter anderem KM 13,5, da es dorthin eine super Verbindung mit der Metro gab. Die prognostizierte Uhrzeit für mich war hierfür 09:52 Uhr und für den Rest der Speedy Family ca. 10:30 Uhr.
Nachdem all diese Dinge geklärt waren, machten wir uns nacheinander bettfertig und lagen kurz vor Mitternacht in unseren Betten. Ein anstrengender und erlebnisreicher Tag ging damit zu Ende, doch wir waren uns einig, dass es morgen für alle Beteiligten sicher noch ein bisschen anstrengender und hoffentlich noch erlebnisreicher werden würde.

 

Sonntag, 23.04.2017

Vorher

Um 06:00 Uhr klingelte erbarmungslos der Wecker. Die Nacht war für viele von uns eher unruhig, da gerade nachts Erlebnisse unterschiedlich verarbeitet werden. Mein Kopf war etwas matschig, aber das kannte ich bereits von anderen Laufveranstaltungen. Das ist normal. Um 06:30 Uhr frühstückten wir Toast mit Käse, Marmelade und Honig. Das sollte nach dem gestrigen doppelten Abendessen reichen, zumal ich noch die obligatorische Banane eingeplant hatte.

 

Um 07:30 Uhr hatten wir die Wohnung dann endgültig verlassen und sind in das windige Warschau hinausgetreten. Na das wird ein Spaß. Hoffentlich bläst der Wind auf der zweiten Streckenhälfte nicht permanent von vorn, war mein erster Gedanke, doch ich vermutete das Gegenteil. Naja, dann war eben Windschatten-Laufen angesagt.

Um 07:45 Uhr erreichten wir das besagte Büro, welches merkwürdigerweise Öffnungszeiten von 9 Uhr an der Tür angegeben hatte. Wir verfielen in Stress, wodurch meine Mutter zum Handy griff und zunächst vergeblich die Notfallnummer des Büros wählte. Zum Glück rief eine Minute später jemand zurück und bestätigte nochmal, dass bereits um 8 Uhr wer da sein wird. Das beruhigte uns wieder und so verabschiedeten wir uns vorerst von Sophie und Tobi, die den Auftrag hatten, die Taschen abzugeben.
Mit ein wenig zeitlichem Vorsprung machten wir uns auf den Rückweg zur Metro, mit der wir nach nur vier Stationen das Ziel am Stadion erreichten. Die Wagons füllten sich natürlich mit jedem Zwischenstopp und der berühmte Nervenkitzel, den man nur bei solch riesigen Marathonveranstaltungen bekommt, machte sich breit. Alle waren nervös und kontrollierten mehrmals, ob sie nichts vergessen hatten. Die unterschiedlichsten Finisher-Shirts wurden zur Schau getragen, hier und da roch es bereits nach Bananen und mit Fremden war man sofort per „Du“, was in Polen eher untypisch ist.
Etwa 50 Minuten vor dem Start befanden wir uns in einem großen Menschenstrom Richtung Marathon-Gelände, wo wir zunächst die Gepäckabgabe aufsuchen wollten. Da das eigens für uns Läufer abgesperrte Gelände so groß war, war es dort zum Glück nicht mehr so voll und unübersichtlich. Fünf Minuten später waren unsere Beutel abgegeben und zu unserem Leidwesen sahen wir, dass auch mehrere kleine Handgepäck-Koffer aufgegeben worden waren. Na toll, in unserem Fall hätten wir uns so einen großen Teil Organisation sparen können.
Gut 40 Minuten vor dem Start machten wir noch einen schnellen Abstecher zu einer langen Reihe Dixi-Klos, die weiter hinten in einer abgelegenen Ecke des Geländes standen. Der Vorteil war, dass hier keine Warteschlangen waren und wir das Nötigste schnell erledigt hatten. Im Anschluss liefen wir wieder quer über den großen Schotterplatz schnurstracks Richtung Metro-Station, in deren Nähe Sophie und Tobi sicherlich schon auf uns warteten.

Um 08:25 Uhr entdeckten wir die beiden an der vereinbarten Kurve relativ nah an der Startlinie. Und genau in diesem Moment fing es merkwürdigerweise relativ stark zu regnen an. Komisch, obwohl es bewölkt ist, haben wir damit nicht gerechnet. Zum Glück war der plötzliche Platzregen nach zwei Minuten wieder Geschichte und Nicole und ich fingen an, uns von unseren Liebsten zu verabschieden.

Als dann nur noch 15 Minuten bis zum Start verblieben sind, trennten sich auch die Wege der Speedy Family. Während ich schon unmittelbar vor dem großen Fußballstadion im Uhrzeigersinn herum musste, wurden meine Eltern und meine Schwester über die spätere Zielgerade in einem größeren Bogen herum geführt. Die Trennung zwischen schnelleren und langsamere Läufern lag bei einer Zielzeit von 04:00:00 Stunden.

Gut 10 Minuten vor dem Start merkte ich, dass wir Marathon-Läufer auf der Straßenseite zum Fluss Wisła hin stehen mussten. Auf der Seite zum Stadion hin, von der wir nun mal kamen, standen wiederum die 10-km-Läufer. Mir stellte sich nun die Frage, wie ich auf legale Weise auf die andere Seite komme. Ich rannte ein paar Mal rauf und runter und sah dann an einer Stelle eine Öffnung in den Absperrzäunen. Dort huschte ich hindurch und war rechtzeitig auf der Flussseite und somit im Startblock der Marathonis.
Ein letztes Mal kontrollierte ich die Schnürrung meiner Schuhe und zwängte mich dann Richtung Startlinie hindurch. Ein paar Minuten vor dem Startschuss erreichte ich die zweite Reihe der Amateure, die ebenso mindestens die 3-Stunden-Barriere im Blick hatten. Vor uns befand sich in einem separaten Block nur noch die ostafrikanische, osteuropäische und nationale Elite. Um den Sieg wollte ich heute mal nicht mitlaufen, wenn ich mir diese Berufsläufer genauer anschaute. Aber aufregend war es trotzdem.
Ich hoffte, dass auch meine Speedy Family ihren Weg in den Startblock gefunden hat und wir nun endlich bereit waren, gemeinsam 168,78 km abzuspulen. Die lange Vorbereitung war endlich am Ende angekommen und wir merkten die positive Nervosität. In Gedanken war ich kaum noch bei meinem eigenen Rennen oder einer neuen Bestzeit, sondern vielmehr bei den Debütantinnen meiner Familie. Mein Vater wusste bereits, was ihm bevorstand, die Mädels nicht. Hoffentlich klappt alles reibungslos.
Nachdem unser Startblock wenige Sekunden vor dem Start kontrolliert nach vorne geführt wurde, pochte mein Herz immer doller. Die Zeitmessmatten lagen schließlich nur drei-vier Meter vor mir, während ich mich in der dritten oder vierten Startreihe befand. Und hinter mir? Tausende von Menschen. Was suche ich kleiner Mann eigentlich hier vorne? Bin ich nicht fehl am Platz? Kein Zeit zum Grübeln, denn plötzlich wurde der Countdown runtergezählt. Fünf Sekunden später war es soweit und wir schossen auf die Straße.

Der Lauf

Ich ordnete mich hinter den osteuropäischen Frauen ein und versuchte, nicht allzu schnell loszurennen. Wahrscheinlich vergebens, wie ich mir denken konnte. Mein anvisiertes Tempo lag bei 03:52 bis 03:55 min/km, um damit dennoch die Chance auf eine Bestzeit zu wahren.
Einige hundert Meter nach dem Start entdeckte ich Sophie und Tobi am rechten Straßenrand in einer weiten Außenkurve. Dass die beiden sich an dieser Stelle aufhalten würden, war im Vorfeld abgesprochen, und so habe ich mich bewusst an den rechten Rand der Läufermasse gedrängelt.

Dann ging die windige Reise durch Warschau los. KM 1 erreichte ich in 03:46 min bereits am Ende der imposanten Brücke „Most Świętokrzyski“, die es auf dem Rückweg auch nochmal zu überqueren gilt. Den leicht ansteigenden Bogen über diese Brücke spürte ich zu Beginn noch nicht. Danach ging es rechts ab auf eine breite Straße Richtung Norden, die das berühmte „Centrum Nauki Kopernika“ passierte.
Die nächsten knapp 3 km verliefen nur geradeaus vorbei an grauen Gebäuden und lauten Straßen. Dank des großen Läuferpulks, hinter dem ich mich versteckte, merkte ich noch nichts von dem strammen Gegenwind. KM 2 in 03:42 min und KW 3 in 03:48 min lagen noch sehr gut im Plan. Erst als es bei KM 4 (in 04:03 min) leicht bergauf ging, spürte ich eine gewisse Müdigkeit in den Beinen, die den letzten Tagen geschuldet sein musste.
Als es links ab in die Neu-Stadt auf die Straße Konwiktorowska zuging, liefen wir an einer menschenleeren Tankstelle des Anbieters Orlen vorbei. Hier musste ich beinahe laut schmunzeln, denn das Unternehmen Orlen ist zwar namensgebender Sponsor des Marathons, aber scheint nicht mal eine Handvoll jubelnder Mitarbeiter an den Streckenrand zu bekommen. Werbung sieht in meinen Augen anders aus und ich kenne viele Beispiele aus Europa, wo die Sponsoren solcher großen Läufe alles aus sich gaben.
Nach einer weiteren Linkskurve bogen wir in die sogenannte Honigstraße (Ulica Miodowa) ein und strebten der Alt-Stadt entgegen (KM 5 in 03:52 min). Den ersten Getränkestand ließ ich dabei aufgrund der recht kühlen Temperaturen noch unbeachtet an mir vorbeiziehen.
Nun näherte sich einer der schönsten Streckenabschnitte, die ich ehrlicherweise viel lieber am Ende gesehen hätte. Es ging auf eine zum Teil mit Kopfsteinpflaster bedeckte Straße zu (Krakowskie Przedmiescie), die durch die komplette Innenstadt führt und die Läufer folgende Sehenswürdigkeiten passieren lässt: das Warschauer Königsschloss (Zamek Królewski), das Adam-Mickiewicz-Denkmal, den Präsidentenpalast (Pałac Prezydencki) und das Nikolaus-Kopernikus-Denkmal. Bis hierhin sind zwei weitere Kilometer wie im Flug vergangen (KM 6 in 03:50 min und KM 7 in 03:46 min).
Unweit vom Nationalmuseum entfernt ging es schnurstracks weiter Richtung Süden. Getrieben durch schönes Windschatten-Laufen und eine ordentliche Portion Rückenwind, konnte ich problemlos super Abschnitte abspulen (KM 8 bis 10 in 03:45, 03:48 und 03:44 min). Am Ende des ersten Zehners hatte ich eine Zeit von 38:12 Minuten zu verbuchen, was auf eine Zielzeit von utopischen 02:41:11 Stunden hindeuten ließe.

Mein nächstes Etappenziel widmete ich meiner Freundin Sophie, die am Streckenrand bei KM 13,5 auf mich warten müsste. Dabei blieb ich konsequent unter dem 03:50er-Tempo, was normalerweise viel zu schnell für meine Verfassung ist. Ich schrieb es weiterhin dem Rückenwind zu und verzichtete auf eventuelles Abbremsen. Zumal ich dann aus meiner sehr komfortablen Gruppe rausfallen würde KM 11 bis 13 in 03:48, 03:43 und 03:44 min).
Als bei KM 13 eine richtige Fan-Meile mit lauter Live-Musik am rechten Streckenrand präsent war, kam erstmals ein wenig Marathon-Party-Stimmung auf, wie es bei solch großen Hauptstadtläufen sonst üblich ist. Es folgte ein kurzer, leicht kurviger Abschnitt, der leicht bergab in Richtung vereinbartem Treffpunkt führte. An der von weitem sichtbaren Metro-Station „Służew“ sah ich am linken Rand schon zwei Gestalten, die Sophie und Tobi ähnelten. Exakt, sie waren es. Mit deren Metro-Fahrt schien alles geklappt zu haben und das beruhigte mich ein wenig. Gleichzeitig freute ich mich auch für die Speedy Family, die hier nach knapp einem Drittel durch das Zujubeln der beiden nochmal Extra-Power tanken können.

Da ich wusste, dass die beiden Fotos knipsen würden, lief ich ein wenig aus der neun-köpfigen Gruppe heraus. Ich lächelte Sophie zu und versuchte ihr deutlich zu machen, dass bei mir alles soweit gut lief. Jedoch konnte ich nicht verschweigen, dass ich zu schnell angelaufen bin und ließ ein knappes „Höllentempo!“ verlauten. Sie wird es sicher gehört haben und wusste es zu interpretieren. Tja, was soll’s?
Der Rest der Speedy Family traf wie prognostiziert um 10:30 Uhr - also 35 Minuten nach mir - an diesem Treffpunkt ein und winkte ebenfalls fröhlich in die Kameralinsen. Super cool!
Zuvor ging es für mich auf die nächste offizielle Zeitmessmatte bei KM 15 zu (KM 14 und 15 in je 03:45 min). Auch hier war ich noch durch die Laufkollegen und den Wind getrieben, sodass die Prognose auf eine Zielzeit von 02:40:26 Stunden anstieg - eine Traumzeit. Ich merkte dadurch natürlich, dass ich Potenzial für einen weiteren flotten Marathon habe und ich freute mich schon heute auf den Tag, an dem ich die absolute Wahnsinnszeit von unter 02:40 Stunden raushauen werde. Aber dieses mittlerweile gut gefüllte Marathon-Jahr 2017 wird wohl nicht dafür herhalten.
Der Grund meiner Einschätzung ist, dass ich nach und nach ein paar schnelle Männer ziehen lassen musste und mich seit dem Treffen bei KM 13,5 immer am Ende des Pulks befunden hab. KM 16 und 17 in je 03:50 min zeigten eine leichte Tendenz auf, die ich nicht krampfhaft aufhalten wollte: es würde wohl langsamer werden. Es folgten KM 18 bis 20 in 03:49, 03:52 und 03:51 min.
Die breiten und auf Dauer recht monotonen Straßen der Stadt, die uns aus dieser hinausführten, trugen leider nicht dazu bei, dass ich zunehmend motivierter wurde. Bei KM 20 piepte die Matte erneut und sorgte dadurch für ein wenig Abwechslung. Die Hochrechnung ergab zu diesem Zeitpunkt 02:40:47 Stunden, also noch völlig im grünen Bereich.

Als es dann hinter KM 21 (in 03:54 min) richtig schön ländlich wurde, wir aus der Stadt in den Wald „Las Kabacki“ hinein liefen und es zudem ordentlich bergab ging, wurde es endlich abwechslungsreicher. Insbesondere überraschte uns der plötzliche, starke Regen, der zum Glück nur wenige Sekunden auf uns hinunter prasselte und mich zumindest etwas wach machte. Nicht zuletzt durch die steile und kurvige Bergab-Passage (KM 22 in 03:41 min) wurde die nur noch kleine Gruppe endgültig auseinandergerissen. Ein-zwei Läufer um mich herum versuchte ich noch zusammenzutrommeln, indem ich kurze Blicke um mich schweifte und das Tempo variierte. Mehr als ein junger englisch-sprachiger Kollege wurde es dann aber nicht, mit dem ich gemeinsam weiter nach vorne preschte. Auch er war bereits ganz schön am Limit, sagte er mir, und doch wollten wir nicht langsamer werden (KM 23 in 03:50 min und KM 24 in 03:55 min).
Bei KM 24,5 erfolgte dann endlich die lang ersehnte Wende, indem wir zweimal links abbiegen mussten. Von nun an ging es volle Kraft voraus in Richtung Innenstadt zurück. Die volle Kraft war allerdings auch wettertechnisch zu spüren, denn der zuvor leichte Rückenwind wurde zu einem heftigen Gegenwind. Und der Windschatten war futsch.
Zudem wurde es wieder recht monoton, da die Laufstrecke zwischen KM 24,5 und 29 an einer großen Schnellstraße entlang führte. Den Kilometerpunkt 25 passierte ist in 03:54 min und hatte zu diesem Zeitpunkt eine geschätzte Zielzeit von 02:41:02 Stunden. Auch das wäre der absolute Oberhammer. Was die Platzierung betrifft war ich an diesem Punkt 63. insgesamt und 55. Mann, womit ich voll und ganz zufrieden sein konnte.
Der besagte Gegenwind raubte mir jedoch zunehmend die letzten Kräfte und so folgten auf dem Seitenstreifen neben der Schnellstraße folgende Abschnitte: KM 26 bis 28 in 03:59, 03:55 und 04:02 Minuten. Zwei-Drittel waren erledigt, das schwierigste Drittel stand mir noch bevor und der nächste Kilometer zeigte deutlich, dass ich das schnelle Tempo von unter 4 min/km verlassen habe (KM 29 in 04:06 min). Immerhin ging es über die Allee Wilanowska wieder zurück in städtischere Gebiete, was mir lieber war, als eine Art Autobahn.
Bei KM 30 (in 04:09 min) ging es leicht rechts ab und dann befanden wir uns auf der breiten und langen Straße „J. III Sobieskiego“, die am Horizont endlich wieder den Kulturpalast offenbarte. Das war nun das nächste Etappenziel auf dem Weg zum eigentlichen Finish. Bis auf eine kleine Ecke, die wir zusätzlich laufen mussten, führten die folgenden 5 km permanent geradeaus (KM 31 bis 35 in 04:17, 04:13, 04:15, 04:14 und 04:11 min). Trotz dessen dass es langsamer geworden ist, ist eine Art Konstanz erkennbar. Damit war ich vorerst zufrieden, denn von dem Mann mit dem Hammer war noch nichts zu sehen oder zu spüren.
Bei KM 35 ergab die Hochrechnung eine Zielzeit von 02:45:17 Stunden, was dann endgültig über meiner Bestzeit von Oldenburg lag. Die Hoffnung starb zuletzt, aber das Sightseeing vom Vortag und der Wind waren schließlich das Zünglein an der Waage. Im Übrigen sind diese Prognosen erst nachträglich in der Ergebnisliste so genau kalkuliert worden. Unterwegs nach Übertreten der Zeitmessmatten vertraute ich ganz und gar meiner GPS-Uhr und meinem Bauchgefühl. Beide sprachen eine Sprache und ließen mich nicht weiter auf Wunder hoffen.

Hinter KM 35 bog ich dann rechts ab und befand mich auf einem Straßenabschnitt, den ich vom gestrigen Marszobieg kannte. Hier passierten wir den mit 80 Hektar größten und berühmtesten Stadtpark von Warschau namens „Łazienki Królewskie“. Kurz hinter KM 36 (in 04:14 min) ging es dann aber wieder links ab auf den linken Streifen einer großen, viel befahrenen Schnellstraße. Diesen Abschnitt musste ich noch bis einschließlich KM 40 irgendwie ertragen, bevor es hoffentlich in eine schönere, genussvollere Endphase des Marathons übergehen konnte (KM 37 bis 40 in 04:16, 04:22, 04:27 und 04:26 min).
Die Tendenz der letzten Kilometer brauche ich nicht mehr zu kommentieren, sodass die Prognose nun nur noch 02:47:42 Stunden versprach. Hauptsache, unter 02:50 Stunden bleiben, lautete ab sofort meine Devise. Das war das absolute Minimalziel, das ich aber auch problemlos erreichen sollte. Mir blieben für die letzten 2,195 km noch ganze 11 Minuten Zeit, was komfortabel erschien.
Beim Abbiegen nach rechts nahm ich im Blickwinkel eine rockige Live-Band wahr, die mir noch den letzten Pepp für den leichten Anstieg zur Mitte der großen Brücke geben sollte. Mein Blick wanderte jedoch ständig zur Uhr und ich wollte einfach, dass der Lauf endlich zu Ende geht.

Hinter der Brücke ging es wieder rechts ab zurück auf die Startgerade von heute Morgen, bloß in entgegengesetzter Richtung. Bald war KM 41 erreicht (in 04:24 min) und ich durchquerte den großen Startbogen. Auch der letzte Kilometer schien hügelig zu werden und bescherte mir den langsamsten Abschnitt des Tages (KM 42 in 04:34 min). Aber das war mir nun auch egal und ich genoss den Gedanken, gleich im Ziel meines dritten Hauptstadt-Marathons zu sein. Natürlich verlor ich gerade auf den letzten paar Kilometern einige Plätze, die aber auch nicht mehr so bedeutend waren. Die Top-100 wird wohl erreicht sein und mehr muss es nicht sein, dachte ich mir auf den letzten Metern.
Die lange Zielgerade führte dann wieder leicht bergab und trieb mich förmlich in einen zunehmend lauten Tunnel aus Jubel und Applaus. Erst hier kam das gewisse Gänsehaut-Gefühl auf, für das nur jubelnde Zuschauer sorgen können. Am vereinbarten Punkt am linken Streckenrand etwa 100 Meter vor dem Ziel suchte ich nach einer winkenden Sophie. Und ich entdeckte sie recht schnell, denn sie lehnte sich mit Abstand am weitesten von allen über die Absperrung.

Da ich nicht mehr um jede kleine Sekunden kämpfen musste, wollte ich diesen besonderen Moment nutzen und meinem Schatz noch vor meinem Zieleinlauf einen Kuss aufdrücken. Dies sollte erst das zweite Mal werden, denn zuvor habe ich das nur einmal beim Falko Haase Ultramarathon gemacht. Die Rechnung ging auf, ich habe das richtige Mädchen auf die mir bekannten Lippen getroffen und dann setzte ich hoch motiviert zum Endspurt an und flog doch noch schnellen Schrittes der atemberaubenden Ziellinie entgegen. Es sollte noch mindestens eine Zeit von unter 02:49 Stunden werden.
Und dann plötzlich war es soweit: mitten unter dem großen Zielbogen drückte ich den Stopp-Knopf meiner Laufuhr und sah 02:48:48 Stunden aufleuchten. Super! Das entspricht auf die Sekunde genau einem 04:00-min/km-Schnitt. Cool, was sich auf der ersten Hälfte bei guten Bedingungen rauslaufen ließ. Und doch sah ich noch Luft nach oben. Haken dran und Freude kommen lassen, Patrick!

Nachher

Mein erster Gedanke war ‚Wie geht es meiner Speedy Family und hoffentlich haben sie etwas mehr Spaß an dieser schönen Metropole!‘.
Ich war gespannt, wie es bei den Dreien - und vor allem bei den beiden Debütantinnen - so klappt und ob alle soweit gesund durchkommen. Den Wind werden sie nun noch etwas länger aushalten müssen. Während ich abstoppte und die paar Meter zur Medaillen-Ausgabe spazierte, wurde mir zunehmend kälter. Da half auch die raschelnde Wärmefolie kaum, die sich durch den starken Wind nicht richtig um den Körper legen ließ. Die Medaille hingegen war sehr besonders und empfand ich als großen Anerkennung für die vorherigen Strapazen. Sie zeigte eine große goldene 42, die symbolisch natürlich für die zurückgelegte Distanz stand.
Ohne weiter zu zögern bewegte ich mich über den großen, fast menschenleeren Platz in Richtung Verpflegungsstand in der Hoffnung, dort etwas Wärmendes zu bekommen. Leider gab es neben dem omnipräsenten OSHEE Wasser und OSHEE Sportgetränk vorerst nur einen Becher warmen Tee pro Teilnehmer. Und wie ich nebenbei erfahren habe, wurde der Tee den 10-km-Läufern explizit verweigert. Was soll das denn? Also sowas habe ich noch nie gehört. Äpfel, Bananen und Müsli-Riegel gab es hingegen so viel jeder essen oder tragen konnte. Ich aß lediglich einen Müsli-Riegel und setzte mir hierfür mühsam auf die eine Stufe, die zu dem großen offenen Zelt hinaufführte. Auch an adäquaten Sitzbänken fehlte es den Organisatoren. Nicht gut.
Unter einigen Schmerzen versuchte ich, mich nach 5 Minuten wieder aufzurichten und zur Gepäck-Abgabe zu gehen. Dort war ich erwartungsgemäß einer der ersten, sodass die etwas orientierungslosen Mädchen einige Zeit brauchten, um meinen Beutel zu finden. Von dort an fragte ich mich bei mindestens drei kleinen Gruppen von freiwilligen Helfern durch, wie ich zu den Duschen kommen  kann. Auch hier konnte mir niemand auf Anhieb aushelfen, sodass ich gefühlt erst eine Viertelstunde später im hintersten Bereich des Areals angekommen bin.
Dort war ich ein weiteres Mal geschockt, als ich sah, dass es nur eine Handvoll einzelner Duschkabinen gab, aus deren Duschköpfen es scheinbar nur tröpfelte. Das bisschen Wasser war zwar warm, aber Duschen konnte man den Vorgang nicht nennen. Ich klatschte mir somit nur etwas Wasser ins Gesicht und in die Haare, trocknete mich ab und zog mir trockene, warme Klamotten über. Länger wollte ich hier nicht verweilen, sondern viel lieber zurück zu Sophie und Tobi, die sicher weiter Wind und Wetter trotzten, um die anderen drei nicht zu verpassen.
Eine knappe Stunde nach meinem Zieleinlauf war ich dann wieder am Ausgangstor des Nachzielbereichs angekommen und stapfte geradewegs Richtung Hot-Dog-Stand, wo ich mit Sophie verabredet war. Kurz davor lief sie mir bereits entgegen und umarmte mich. Das war ein schönes Gefühl. Beide Paparazzi gratulierten mir und fragten mich nach der Strecke und den Bedingungen. Ich prognostizierte den anderen Dreien noch einen harten Kampf gegen den Wind, aber konnte zuverlässig sagen, dass alle es schaffen sollten.
Danach entschied ich mich, zur Belohnung einen großen Hot-Dog zu kaufen. Dazu gab es gratis Warka Radler Alkoholfrei, das von mehreren Promotern in rauen Mengen an die Zuschauer verteilt wurde. So kam ich schnell wieder zu Kräften und gesellte mich dann zu Tobi und Sophie, die wieder am Absperrzaun standen und den herbeieilenden Läufern in die müden Gesichter schauten. Wann kommen sie endlich und kommen sie zu dritt oder einzeln? Wir waren gespannt.
Plötzlich entdeckten wir völlig unerwartet meinen Vater nach einer Laufzeit von insgesamt 04:28:59 Stunden. Superklasse! Nach seinem Debüt in München 2012 in 04:20:06 Stunden und vielen Knieproblemen in jüngster Vergangenheit haben wir ehrlicherweise nicht wieder mit so einer starken Leistung gerechnet. Top und großen Respekt!

Aber gleichzeitig hieß es, dass meine Mutter und Nicole ihr Ziel von einer Zeit unter 04:30 Stunden nicht erreichen würden, schade. Hoffentlich ist nichts Schlimmeres passiert, war mein erster Gedanke. Und da mein Vater im Nachzielbereich verschwand, konnten wir ihn auch nicht befragen. Also blieb uns nur, die Daumen zu drücken und auf die beiden Marathon-Damen zu warten.

Nach einer Laufzeit von insgesamt 04:46:59 Stunden war es dann aber endlich soweit. Die beiden Neu-Marathonis erreichen gemeinsam das Ziel ihres ersten Laufs über 42,195 Kilometer und das immerhin noch laufend, Wahnsinn! Ich konnte erkennen, dass Nicole es etwas härter erwischt hat und die sichtlich mit dem Mann mit dem Hammer zu kämpfen hatte. Das muss sie von Papa geerbt haben.

Zumindest konnten wir jetzt alle beruhigt sein, dass niemand gesundheitlich bedingt aufgeben musste und alle noch auf ihren Beinen stehen können. Für uns drei Zuschauer hieß es jetzt wieder, zu warten, und besonders Sophie und Tobi waren bereits bis auf die Knochen durchgefroren. Wir wärmten uns noch an einer Feuerstelle neben dem Hot-Dog-Stand auf, trippelten auf der Stelle oder wärmten uns gegenseitig. Not macht erfinderisch.

Und gut 50 Minuten später - genau um 14:41 Uhr - entdeckten wir die drei Marathonis in der Ferne auf uns zukommen. Endlich durften wir sie gleich auch drücken. Während meine Eltern ihren Schritt anzogen, blieb meine Schwester deutlich dahinter. Sie humpelte, ohje!
Bei uns angekommen waren die Gratulationen groß und ich durfte endlich unser kleines Geschenk aus meinem Beutel zücken: für beide Debütantinnen gab es einen Jute-Beutel mit dem Aufdruck ‚Läuft!‘, eine weiße Cappy vom diesjährigen Orlen Warschau Marathon und ein individuelles Foto, in das die Zielzeit eingetragen werden kann. Dieses Foto wird es für beide zu Hause noch als kleines Leinwandbild geben, jedoch ist die Post etwas zu langsam gewesen, könnte man sagen.

Anschließend sind wir ohne lang zu zögern zurück zur Metro-Station gegangen. Währenddessen erhielt unsere Oma noch einen kurzen Anruf, sodass sie sich keine weiteren Sorgen machen musste. Ein paar Minuten später waren wir schon unterwegs und um 15:30 Uhr im Reisebüro angekommen, wo wir heute Morgen unser Gepäck abgegeben hatten. Nachdem wir unser Gepäck ein wenig sortiert hatten, entschieden wir uns spontan dazu, dieses noch ein wenig im Reisebüro zu hinterlassen und ins nahegelegene Einkaufszentrum zu gehen, um dort was zu essen. Vorab bestellten wir ein ausreichend großes Taxi, das uns um 17 Uhr abholen sollte.
Nach einigen hundert Metern zu Fuß und diversen Treppenstufen, die besonders für Nicole schön anstrengend zu nehmen waren, erreichten wir im obersten Stockwerk den Food Court des Einkaufszentrums. Da uns kurz zuvor jemand einen Burger King Gutschein-Bogen in die Hand drückte und wir in der Tat schnelles Essen suchten, war die Entscheidung zugunsten der ungesunden Variante gefallen. Mir gefiel’s!
Für Sophie holten wir beim benachbarten Konkurrenten McDonald’s noch einen Milkshake und dann waren alle zufrieden.

Kurz vor 17 Uhr waren wir dann überpünktlich wieder am Reisebüro, wo das Taxi schon auf uns wartete, um uns zum Flughafen Warschau-Modlin zu bringen. Unseren gemeinsamen Flieger erreichten wir ebenso pünktlich und hoben um 20: Uhr ab. Damit verließen wir polnischen Boden und kehrten mit vielen Impressionen zurück nach Deutschland.
Das war’s nun! Mein erster Marathon in meinem zweiten Heimatland Polen! Das Debüt meiner Mutter und meiner Schwester, was mich unheimlich stolz macht! Die zweite Königsdisziplin für meinen Vater, Wahnsinn!
Und dann waren da noch mein Schatz Sophie und mein guter Freund Tobi, denen wir vier sehr viel zu verdanken haben, denn ohne die beiden wäre all das Organisatorische kaum machbar gewesen. Großes Dankeschön euch beiden für die ebenso große Ausdauer, die ihr in diesen Tagen bewiesen habt! Und nicht zuletzt Danke für die vielen, schönen Fotos, die uns hoffentlich ewig erhalten bleiben.

Zahlen & Fakten

Distanz

 

Gelaufene Zeit (Netto)

 

Gelaufene Zeit (Brutto)

 

Altersklasse

 

AK-Platzierung

 

Platzierung (Männer)

 

Gesamtplatzierung

42,195 km

 

02:48:48 Std.

 

02:48:49 Std.

 

Männl. Hauptklasse (88-97)

 

21. von 719 (2,9 %)

 

75. von 4723 (1,6 %)

 

83. von 5519 (1,5 %)