43. RUN Winschoten 50 km

08.09.2018

Vorher

Nachdem ich Ende 2017 für mich entschieden hatte, im Jahr 2018 sechs Marathons zu laufen und somit erst beim 5. Rubbenbruchsee Marathon auf insgesamt 50 (Ultra-)Marathons zu kommen, kam es kurzfristig doch ganz anders. Freunde und Familie hatten sich das sicher schon gedacht: „Jaja, Patrick, nachdem du 17 Marathons in 2017 gelaufen bist, werden dir sechs in 2018 doch nicht ausreichen.“ Und was soll ich sagen? – Sie sollten Recht behalten.
Bereits am 17.06.2018 lief ich bei der Hamburgiade meinen 49. Marathon. Bis Mitte Dezember konnte ich unmöglich warten. Und so kam das eine zum anderen: ein alternativer Jubiläums-Lauf musste gefunden werden. Was passt da besser, als bei seinem 50. langen Kanten gleich mal 50 Kilometer zu laufen? Und warum nicht bei Gelegenheit wieder ein mir alt bekanntes Land besuchen: die Niederlande? Diese zwei Eingrenzungen führten dazu, dass meine Wahl auf Winschoten fiel. Ein Örtchen, das mit seinem RUN schon mehrere Male Welt- und Europameisterschaften über 100 km ausgetragen hatte. Eine gute Organisation war somit gesichert.
Am 18.06. buchte ich für meine Freundin Sophie und mich eine Unterkunft in dem kleinen Vorort Oude Pekela. Den Startplatz sicherte ich mir erst 23 Tage vor dem Wettkampf. Parallel lief das Training auf Hochtouren. Noch nie zuvor habe ich so viele lange Trainingsläufe absolviert, wie in diesem Jahr. Insgesamt sind 20 Wochen mit jeweils mind. 100 Kilometern zusammengekommen und an 21 aufeinander folgenden Tagen (13.08. – 02.09.) habe ich jeden Tag die Laufschuhe geschnürt (376 km).
Ein einziges Hindernis stellte sich mir dann aber doch noch in den Weg. Am Donnerstag vor dem Wettkampf erkrankte ich plötzlich und litt unter Fieber-Erscheinung. Mit zwei-drei langen Nächten und dem Donnerstag im Homeoffice, den ich zum größten Teil im Bett verbrachte, nahm ich den Kampf gegen die Krankheit auf. Mit einem Quäntchen Glück ging es mir am Freitag bereits etwas besser.
Am Freitag beendete ich meinen Arbeitstag überpünktlich um kurz vor 16 Uhr und wurde anschließend von Sophie mit dem Auto abgeholt. Wenige hundert Meter entfernt sammelten wir zwei Mitfahrer ein, die beide nach Leer mitfahren wollten. So sprangen bei Gelegenheit 20 € Spritgeld für uns raus.
Der Start der Fahrt gestaltete sich jedoch sehr schwierig, denn so viel Verkehr, wie an diesem Tag, habe ich in Hamburg noch nie erlebt. Für den knapp 10 km langen Weg zu den Elbbrücken haben wir mehr als 2 Stunden benötigt. Die Nerven lagen blank. Zu Fuß wäre ich diese Strecke dreimal abgelaufen.
Kurz nach Verlassen der Stadt war der Verkehr wieder flüssig und wir kamen gut durch. Zum Glück folgte auch nur ein kleiner Toiletten-Stopp, woraufhin wir Leer in Ostfriesland um 20:05 Uhr erreichten. Wir setzten unsere Mitfahrer ab und beeilten uns, um noch pünktlich vor Ende der heutigen Startnummern-Ausgabe um 21 Uhr in Windschoten zu sein. Mittlerweile hatten wir (leider) die Jahreszeit, in der es zu dieser Uhrzeit zappenduster ist. So erreichten wir die Sporthalle „Stikkerlaan“ ein wenig orientierungslos nur dank des Navis im Handy. Da es draußen schon recht kühl geworden ist, parkten wir das Auto direkt gegenüber der Halle, sprangen schnell raus, knipsten ein-zwei Fotos und holten flott meine Unterlagen.

Da der Check-In in unserem wenige Kilometer entfernten Appartement-Zimmer bis 21:30 Uhr möglich war, verblieben uns nun maximal 40 Minuten, die wir dafür nutzten, um in der nahegelegenen City Pasta zu finden. Auf engstem Raum entdeckten wir hier drei oder vier italienisch angehauchte Restaurants, von denen nur eines ein akzeptables Preis-Leistungs-Verhältnis bot. Sophie entschied sich für Penne mit Sahnesoße (8,40 €), während ich das zweitgünstigste Gericht wählte: Penne Bolognese für 9,30 €. Beide Portionen wurden uns zum Mitnehmen in Aluschalen eingepackt und selbst Plastikgabeln gab es dazu, hervorragend.
Keine 15 Minuten später kamen wir in Oude Pekela, einer großen von Wasserkanälen durchzogenen Siedlung an. Noch war die Schönheit dieser Ortschaft schwer zu erahnen, zumal jetzt auch noch Nieselregen einsetzte. Hoffentlich würde es am Samstagmorgen schöner werden.
Wir erreichten den Hof eines großen Hauses, durften direkt vor der Haustür parken und huschten mit all unseren Sachen schnell ins liebevoll eingerichtete Zimmer. Hier stimmte das Verhältnis zwischen Preis und Leistung aber mal so richtig (42 € pro Übernachtung, d.h. 21, € p.P.). Mit Liebe zum Detail gab es sogar einen kleinen persönlichen Gruß auf einem Täfelchen.

Nachdem wir uns etwas eingerichtet und unsere Frühstücksutensilien in den zimmereigenen Kühlschrank deponiert hatten, kochte ich uns Wasser für einen Tee auf und zappte durch die TV-Sender. Leider gab es nur vier deutschsprachige, sodass wir uns auf die NDR Talkshow mit Barbara Schöneberger einlassen mussten.
Nach dem Essen, von dem Sophie mir noch einen kleinen Teil überließ, trank ich der Gesundheit zuliebe noch zwei oder drei weitere Tassen Tee und legte zwischenzeitig meine Laufklamotten für den morgigen Tag bereit.

Die Vorfreude und Nervosität wurden nun spürbar größer. Selten lagen positive Zuversicht in Bezug auf meine Leistung und ängstliches Bangen um meine Gesundheit so nah beieinander, wie an diesem Wochenende. Viele meiner Mitmenschen hätten gesagt, ich sei nicht mehr ganz richtig im Kopf, denn mit der beschriebenen Erkältung sollte maximal langsam gejoggt werden. Ich Dickkopf setzte alles auf die letzte lange Nacht, nachdem die drei Nächte zuvor schon überdurchschnittlich lang für mich waren. Optimismus war nun das, was ich meinem Körper gegenüber ausstrahlen wollte.
Als letztes Dessert vor dem Zu-Bett-Gehen holte Sophie Manner-Schokowaffeln hervor. Ohne dass es einer von uns ahnte oder gar aussprach, müssen diese Waffeln doch ein Zeichen gewesen sein: Manner-Waffeln haben ihren Ursprung in Wien, also jener wunderschönen Stadt, in der ich im Rahmen des Wings for Life World Runs das 50-km-Ziel knapp verpasste. Doch die Revanche stand kurz bevor! Ob Wien oder Winschoten ist mir im Nachhinein egal, Hauptsache ich knacke die 50!
Nach einer für mich erholsamen und für Sophie leider unruhigen Nacht klingelte der Wecker um kurz vor 8 Uhr. Diese Uhrzeit ist für Marathon-Tage verhältnismäßig spät und für uns beide sehr zuvorkommend. Ich versuchte, die morgendliche Müdigkeit mit etwas verrückter Musik (Manu Chao) aus den Gliedern zu bekommen, kochte uns dabei einen Kaffee und bereitete das Frühstück vor. Sophie machte sich auch langsam fertig, sodass wir um 8:30 Uhr etwas essen und uns um kurz nach 9 Uhr auf den Weg machen konnten.

Um 9:30 Uhr fanden wir wenige hundert Meter vom Start entfernt einen Parkplatz auf einer kleinen Grasfläche vor einem Haus. Da alle umliegenden Straßen und Grünflächen ebenfalls voll mit Autos zugestellt waren, dachten wir uns, dass sicher auch unser Parken geduldet werden dürfte. Wir marschierten also ruhigen Gewissens zum Veranstaltungsgelände, wo ich mich noch ein wenig warmlaufen und die Toilette aufsuchen konnte. Für all die Dinge war noch ausreichend Zeit, denn erstens war ich bereits mit Startnummern für Brust und Rücken ausgestattet und zweitens brauchte das Aufwärmprogramm vor einem Ultramarathon nicht so groß ausfallen, wie vor kürzeren Distanzen.

Sophie feuerte mich während meines Warmlaufens an und versuchte so, meine letzten Bedenken aus dem Kopf zu kriegen. Die verschleppte Erkältung setzte mir nämlich tatsächlich etwas zu und ließ meine Beine schwer wirken. Oder war alles doch nur reine Kopfsache?
Nachdem um 10 Uhr die 90 Läufer des 100-km-Rennens auf den Rundkurs geschickt wurden, begann ich mit den allerletzten Vorbereitungen. Die Schuhe mit Leihchip für die Zeitmessung waren fest verschnürt, der wärmende Trainingsanzug ausgezogen und die Freundin noch ein letztes Mal geküsst.
So begab ich mich dann fünf Minuten vor dem Start in den schmalen Startkanal, den ich von hinten betrat. Ich wuselte mich durch den Großteil der Läufer und platzierte mich in der zweiten Reihe von vorne. Dabei scannten meine Augen schnell die Konkurrenz ab, die für recht stark eingestuft werden konnte. Mindestens eine Handvoll Läufer sieht nach Profis aus, zumal die Startliste bereits Ähnliches offenbarte (mitunter soll ein Starter eine Marathon-Bestzeit von 02:19 Std. aufweisen).

Während ich Sophie mit beiden Armen winkte, entdeckte ein Kameramann meine Pose und knipste schnell ein Foto von mir. Das war eine lustige Situation, die mich schmunzeln und jegliche Bedenken vergessen ließ. Und plötzlich war es schon so weit, denn wenige Augenblicke später fing der Moderator mit dem Countdown an.
Das Kribbeln kam wieder, Nervosität, Gänsehaut und doch – wie jedes Mal – unendliche Vorfreude auf die bevorstehenden Strapazen. Wir Ultras sind schon komisch!
… drie … twee … één … und Schuss! Los geht die Reise über fünf abwechslungsreiche Runden à 10 Kilometer.

Der Lauf

Mit dem Ziel, eine Zeit um 03:30 Stunden zu erreichen, plante ich, von Beginn an ca. 04:10-04:12 min/km zu laufen. Dass dies gerade auf dem ersten Kilometer kein leichtes Unterfangen ist, war mir klar. Hochmotiviert ließ ich die ersten vier Läufer schnell davonziehen und reihte mich an fünfter Position ein. Der erste Kilometer (in 03:59 min) schlängelte sich durch den südlichen Teil des Stadtparks an den privaten und häufig bemannten Versorgungsstationen der 100-km-Läufer vorbei. Sehr viele von ihnen hatten einen Pavillon und mehrere Stühle aufgestellt und ihren Stand mit vielen Leckereien bestückt. Sowas kennt man nur von Ultramarathons, herrlich.
Am östlichsten Punkt der Strecke ging es links ab auf die breite Straße Bovenburen, die ziemlich genau einen Kilometer lang war und stramm gegen den Wind führte (KM 2 in 04:11 min). Die Abschnitte, die gen Norden verliefen, waren mir da schon lieber und so nutzte ich den günstigen Seitenwind sogleich und holte bei KM 3 wieder ein paar Sekündchen raus (in 04:02 min). Der Streckenverlauf führte fortan durch diverse Siedlungen, in denen die ersten Menschen schon jetzt ihre halbe Wohnzimmer-Garnitur aus den Häusern holten und ihre eigenen kleinen Hoffeste feierten.
Damit hatte ich bereits gerechnet, zumal ich Fotos aus den letzten Jahren gesehen hatte und diese nicht zu viel versprochen hatten. Die Straßen waren auch heute wieder mit Fähnchen und Ballons aufwendig dekoriert. Die bunte Vielfalt aller Farben und Flaggen überwog doch tatsächlich auch gegenüber der sehr beliebten Farbe Orange. Zusätzlich gab es einen ausgeschriebenen Wettbewerb für die einzelnen Straßen, denn die am schönsten dekorierte Siedlung sollte 150 € überreicht bekommen. Clever!

 

Hinter KM 3 ging es für uns über einen schmalen Radweg Richtung eines Kanals, an dem wir knapp 200 Meter entlang liefen. Nach Überquerung der Hauptstraße Molenweg, die durch drei-vier Polizisten geregelt wurde, ging es nach links in die nächste bunt geschmückte Straße rein. Mittlerweile wurden die langsamsten 100-km-Läufer eingesammelt, die im Laufe des Vormittags für willkommene Abwechslung auf der meist breiten Strecke sorgen würden. Bei KM 4 (in 04:06 min) reichte ein Mädchen fleißig nasse Schwämmchen und sammelte sei nachher wieder auf. Sie schien schon jetzt alle Hände voll zu tun zu haben.
Auf der Straße Kloosterlaan herrschte die wohl lauteste Musik des Tages, denn zwei sich gegenüber liegende Parteien holten ihre größten Lautsprecher raus und beschalten ihren Straßenabschnitt mit lauter Elektronikmusik. Na wenn das nicht für Extra-Energie sorgte, dann weiß ich auch nicht.
Nach der Linksabbiegung auf die Straße Hoethslaan kam die zweite große Gegenwind-Gerade auf mich zu. Da durfte ich gespannt sein, wie lang dieser Abschnitt wohl werden würde. Nach etwa 500 Metern war es geschafft und nicht nur die nächste Linkskurve, sondern auch die Hälfte des Kurses war erreicht (KM 5 in 04:09 min). Wenige Augenblicke später folgte die nächste Versorgungsstation, an der es neben Wasser auch Cola und diverse Kleinigkeiten zu Naschen gab. Ich verzichtete noch und entschied mich dazu, erst ab Anfang der zweiten Runde regelmäßig zu trinken.
Der nächste Kilometer bis KM 6 (in 04:04 min) führte mit viel Rückenwind zwar ganz vorsichtig bergab, war jedoch mit insgesamt sieben meist rechtwinkeligen Kurven gespickt. So kam etwas mehr Abwechslung ins Spiel. Daraufhin schien ein eher wohlbetuchtes Viertel erreicht worden zu sein, da sich die Häuser hier ganz klar in ihrer Größe zum ansonsten kleinen niederländischen Standard unterschieden. Hinzu kamen viele schöne Gärten, die jeweils um die allein stehenden Anwesen herum führten.
Bei KM 6,5 trafen wir wieder auf den Weg Bovenburen und bogen hier erneut links ab. Vorbei an einer großen Menschenansammlung neben einem ebenso großen Bierstand wurde anschließend einer von zwei Kreisverkehren gekreuzt. Es folgte nun die wohl breiteste Straße – Oudewerfslaan – die über die Länge von etwa 800 Metern schnurgeradeaus führte. An deren Ende erwartete ich Sophie, da dies einer unserer ausgemachten Treffpunkte war (KM 7 in 04:06 min).

Nachdem die Nassaustraat in einem kurzen Zick-zack-Verlauf gekreuzt wurde und ich Sophie an diesem Punkt kurz zulächeln konnte, lief ich weiter gen Süden über den einzigen Abschnitt mit Kopfsteinpflaster. Bei KM 8 angekommen (in 04:10 min) wurde der kleine Park Sterreboos gegen den Uhrzeigersinn umrundet. Auch hier wurden lediglich die breiten Asphaltstraßen oder allenfalls kurz mal der gepflasterte Gehweg belaufen.
Kurz vor KM 9 (in 04:06 min) musste ein dezentrer Anstieg überwunden werden, bevor dann die Belohnung des Tages folgte: die Norderstraat. Die wohl lauteste und bunteste Straße der Runde hatte nicht nur Fähnchen und Ballons im Angebot, sondern unzählige rot-gelbe Regenschirme, die über der gesamten Straße aufgespannt waren. Es hatte beinahe etwas von einem bunten Tunnel, durch den man hindurchlief und wodurch nochmal ordentlich Kraft für den letzten Kilometer einer jeden Runde getankt werden konnte.
Ich darf vorwegnehmen, dass die Norderstraat zurecht den begehrten Preis für die attraktivste Straße gewonnen hat.

Bei KM 9,5 – ziemlich genau im Zentrum der Stadt und Dreh- und Angelpunkt der Route – wollte Sophie wieder auf mich warten. Dieser Streckenpunkt war sehr leicht wiederzufinden, da sich hier eine große Windmühle befand und die Zuschauer nur wenige Schritte gehen mussten, um an zwei Stellen zugucken zu können.

Das letzte Stück des Kurses verlief wieder nur geradeaus und endete im Start-/Ziel-Bereich (KM 10 in 04:01 min). Während hier die Einzelkämpfer unter den Läufern (50 und 100 km) den linken Kanal nutzen sollten, befanden sich auf der rechten Seite die wartenden 10 x 10 km Staffel-Läufer. Besonders in diesem Bereich war die langjährige Erfahrung der Organisation sichtbar. Zu keinem Zeitpunkt des Tages hatte ich das Gefühl, mich auf der Strecke nicht zurecht zu finden. Alles funktionierte reibungslos entweder durch perfekte Streckensperrungen und -kennzeichnungen oder aber durch die vielen motivierten Helfer an den Abbiegungen.

Die erste Umrundung war in 41:19 min geschafft, was gut 20 Sekunden unter meinem Plan war. Ich schrieb das der anfänglichen Euphorie zu und vermutete, dass es gleich etwas ruhiger zugehen würde. Aufgrund der jetzigen Streckenkenntnisse gab es in meinem Kopf nun Passagen, auf die ich mich freute, und Abschnitte, die weniger attraktiv waren. Dazu zählten vor allem die zwei Gegenwind-Stücke zwischen KM 1 und 2 und vor KM 5. Darüber hinaus war alles so abwechslungsreich und schön dekoriert, dass mir sicher auch in der fünften Runde noch nicht langweilig werden dürfte.
Aber noch wollte ich den Tag nicht vor dem Abend loben und so konzentrierte ich mich auf die nächsten Kilometer. Sophie erwartete ich kurz vor KM 17 und somit an anderer Stelle, als zuvor. Für sie haben wir am Vortag einen Plan ausgearbeitet, sodass auch für sie etwas Abwechslung herrscht. Mindestens neunmal würde sie mich sehen können – auch das ist ein Vorteil der Mehrrunden-Läufe.

Außerdem nutzten wir die Chance, dass Sophie mir meine Platzierung und den zeitlich Abstand zu den Konkurrenten durchgeben konnte. Das hatten wir zwar nicht explizit besprochen, aber meine persönliche Supporterin hatte den Dreh schnell raus und versorgte mich mit wertvollen Informationen. Das war echt super – Danke!
Außer ein paar Griffen zum Wasserbecher gab es nichts, was meinen Rhythmus störte. Abhängig vom Wind und der Anzahl der Kurven lief ich auf meiner zweiten Runde Kilometerzeiten von 03:59 min bis 04:11 min, also nach wie vor leicht unter meinem eigentlichen Ziel. So sprang schließlich eine Zeit von 41:07 min raus, was sogar 12 Sekunden schneller als auf der ersten Runde war.

Und auch die dritte Runde begann, wie die zweite endete: Schön gleichmäßig und entspannt. Erstaunlicherweise verspürte ich keine Wehwehchen, keine Müdigkeit und keine Krankheit mehr. Sicher spielte auch das Adrenalin eine große Rolle, aber das war auch gut so. Innerlich kam ich aus dem Schwärmen nicht mehr heraus, wusste aber gleichzeitig, dass 50 km nicht ohne sind. Mir wurde schon häufig genug vor Augen geführt, wie schmerzhaft die letzten Kilometer eines Marathons werden können, und heute sollten es noch fast 8 km mehr werden. Also hieß es erst mal Ruhe zu bewahren.
Ich freute mich wieder darauf, Sophie am Streckenrand zu begegnen, was auf der dritten Runde bei KM 22 und 27 der Fall sein sollte. Der erste Treffpunkt bei KM 22 war strategisch perfekt, denn dieser lag am Ende der langen Gegenwind-Geraden. So stellte ich sie mir als eine Art Belohnung vor, die auf mich wartete. Außerdem war es super, dass sie immer ein paar liebe Worte parat hatte und zwei-drei Fotos von mir knipste. Nur so kann ich solche Laufberichte mit etwas mehr Farbe und Leben füllen.

Bei KM 27 rief Sophie mir dann zu, dass ich auf dem vierten Platz läge. Moment mal, Vierter? Ich bin doch von Beginn an auf Platz 5 gewesen und hatte zu keinem Zeitpunkt jemanden überholt, der über die 50-km-Distanz vor mir lag. Denn das wäre mir aufgrund der farbigen Startnummern auf den Rücken der Läufer aufgefallen.
„Einer ist raus!“ rief Sophie noch hinterher, als sie wahrscheinlich meinen fragenden Blick sah. Um zu erfahren, wie weit der Abstand zum Drittplatzierten war, gab es beim Vorbeilaufen aber keine Zeit mehr. Na gut, ich durfte gespannt bleiben, ob sich an der Platzierung später noch etwas ändern würde. Meine Prognose fiel verhalten aus, denn die Spitzenläufer sind schon früh aus meinem Sichtfeld gelaufen.

Scheinbar motivierte mich die neue Information so sehr, dass ich nochmal einen kleinen Zahn zugelegt habe. Die dritte Runde (zwischen KM 20 und 30) spulte ich in 40:44 min ab und somit fast eine Minute schneller, als geplant. Mein Puffer auf das Ziel, unter 03:30 Stunden zu bleiben, wuchs somit an.
Auch beim Überqueren der Start-Ziel-Linie wurde ich namentlich als derzeit Viertplatzierter angekündigt. Der Moderator hielt sogar vier Finger hin, um mir die Information auch visuell verständlich zu machen, Hammer!
Und so spulte ich weiter meine Kilometer ab und hielt das Tempo gleichbleibend hoch. Um keinen muskulären Einbruch zu riskieren, überlegte ich mir, bei KM 37 mein Energiegel zu zücken und dieses direkt mit einem Becher Wasser runterzuspülen. Einen weiteren taktischen Einfluss auf mein Rennverhalten hatten nun auch die Zwischenzeiten, die mir Sophie durchgab: Auf einem etwa 3 bis 4 km langen Abschnitt verringerte sich mein Abstand zum Drittplatzierten von 3 auf 2 Minuten. Ob das exakt so stimmte, wusste ich nicht, aber das tat nichts zur Sache. Wichtig war die Tendenz und diese zeigte bei mir nach oben und bei meinem Konkurrenten nach unten.

Bis zum Ende meiner vierten Runde, die ich mit 40:47 min fast genauso schnell wie die dritte absolvierte, verlief alles reibungslos. Die Zuschauer wurden zahlreicher, die Überrundungen nahmen ebenfalls zu und auch die Sonne brannte etwas wärmer. Alles so, wie es sein sollte.
Nun fing ich an, von allen markanten Streckenabschnitten „Abschied zu nehmen“. Das ist solch eine Eigenart von mir, wenn ich insbesondere Marathons auf mehreren gleichen Runden laufe. Diese Art des Abschieds von der Marathonstrecke motivierte mich nochmal besonders, auch wenn das Tempo zunächst ein wenig abfiel (KM 41 in 04:14 min und KM 42 in 04:13 min).
Mit einer Marathon-Durchgangszeit von 02:52:42 Stunden durfte ich aber durchaus zufrieden sein und schaute somit zuversichtlich in Richtung der letzten 8 km. Als ich dann ein letztes Mal an dem Kanal entlang lief erblickte ich in der Ferne plötzlich einen Läufer mit orangenem Oberteil. Hm, an diesen Rücken kann ich mich von unserem ersten Kilometer des heutigen Tages erinnern. Und das Tempo passte auch zu meiner Vermutung, dass es sich um den Drittplatzierten handeln müsste. Zwei Schlenker durch die Siedlung Klostergaard später und schon war ich an ihm dran und konnte ihn exakt bei KM 44 überholen (in 04:06 min).

© Marcel Lameijer
© Marcel Lameijer

Ich nutzte den psychologischen Vorteil und riss direkt eine Lücke zwischen uns. Bis KM 47 konnte ich die Geschwindigkeit wieder kontinuierlich steigern (KM 45 in 04:06 min, KM 46 in 04:02 min und KM 47 in 04:01 min). Direkt vor der Windmühle erreichte mich eine weitere positive Nachricht, denn bei meinem letzten Zusammentreffen mit Sophie teilte sie mir mit, dass ein weiterer Läufer ausgestiegen sei. Ich wäre also nun Gesamtzweiter, sicherte sie mir zu. Wahnsinn!

Meine Beine waren dennoch so müde, dass ich die Tempo-Steigerung nicht weiterführen konnte (KM 48 in 04:03 min und KM 49 in 04:08 min). Ich genoss die fünfte Umrundung des Parks Sterrenbos im Süden und besonders das Hindurchlaufen der Noorderstraat nochmals in vollen Zügen, schloss zwischendurch für wenige Sekunden die Augen, atmete tief ein und aus und bekam schließlich einen Kloß im Hals. Das war der absolute Wahnsinn, was hier im Moment passierte. Ich lief meinen 50. (Ultra-)Marathon mit einer solchen Vorgeschichte und einem Rennverlauf, wie ich es mir nicht besser erträumt hätte.
So, jetzt musste es aber doch nochmal ein Sahnehäubchen geben, dachte ich mir. Den letzten Kilometer wollte ich richtig schön ballern und nochmal unter die 4-min-Grenze drücken. Mit ein wenig Rückenwind und unzähligen positiven Emotionen rannte ich der Ziellinie entgegen, die Uhr piepte nur wenige Schritte vor der offiziellen Zeitmessmatte und offenbarte mir schließlich den schnellsten Kilometer des Tages (KM 50 in 03:55 min). Richtig cool!
Ich riss die Hände hoch und war fassungslos vor Freude! Tränen kamen hoch, die ich heute nicht unterdrücken wollte. Heute wollte ich einfach mal vor Freude heulen und meinem Körper damit ‚Danke‘ sagen für die Leistung der letzten 10 Jahre. Es gab wenig Tiefen und sehr viele Höhen und das ist nicht immer selbstverständlich gewesen. Das waren schon ganz besondere Momente, wie eben dieser jetzige auch!


Achja, und die Zeit? Atemberaubende 03:24:33 Stunden!


Und die letzten 10 km? Mit 40:37 min die schnellsten des Tages!

Nachher

Sophie stand links des Zielbereichs und schien etwas verärgert und traurig zu sein. Der Grund war ein fehlendes Finisher-Foto, das mir in diesem Moment – wie auch mit etwas Abstand zum Event – überhaupt nicht so wichtig ist, wie sie meint. Ich wollte einfach nur den Augenblick genießen und das sollte sie gemeinsam mit mir ebenfalls tun. Sie gratulierte mir und war nicht weniger erstaunt, als ich.
Wir schauten uns mit großen Augen und offenen Mündern an und freuten uns immer mehr. Das war ein schönes Gefühl, diesen Moment mit meinem Schatz teilen zu können.

Nur eine Minute später wurden wir aus diesem Traum entrissen und von einem Organisator auf die bevorstehende Siegerehrung um 15 Uhr angesprochen, an der ich unbedingt teilnehmen sollte. Grund hierfür war unter anderem, dass Geldpreise an die ersten drei Läufer ausgegeben wurden. Davon wusste ich bereits aus der Online-Ausschreibung. Über die Höhe des Preisgeldes konnte ich nur mutmaßen und hoffte insgeheim, dass es zumindest 50 € werden würden.

Bevor es für uns zurück in die etwas wärmere Sporthalle ging, wartete ich noch auf den Drittplatzierten, den Lokalmatadoren Jan Venhuizen, der exakt 04:11 min nach mir ins Ziel kam. Am Verpflegungstisch gönnte ich mir dann auch endlich ein Getränk mit Geschmack und natürlich fiel die Wahl auf eine volle Dose Cola, wie sollte es anders sein?
In der Halle zog ich mir zunächst meinen wärmenden Trainingsanzug an, bevor dann eine große Anzeige mit Zwischenstände mein Interesse auf sich zog. Hier konnte ich unter anderem sehen, dass es noch immer drei 100-km-Läufer auf der Strecke gab, die zu ihrer Halbzeit schneller waren, als ich. Das ist kaum vorstellbar und es sei ihnen zu wünschen, dass sich das schnelle Anfangstempo nicht rächt.

Als kleine Belohnung gönnten Sophie und ich uns anschließend zwei Frikandeln und eine salzige Pommes mit Mayo. So ließ sich die Zeit bis zu den Ehrungen ganz gut vertreiben.
Als es um 15 Uhr dann soweit war, freute ich mich auf dem Treppchen über Blumen, einen Pokal eine Urkunde und einen Umschlag mit noch unbekanntem Inhalt. Wenig später holte ich mir an einem großen Tisch rechts neben der Bühne auch noch einen kleinen Pokal für den Altersklassensieg und eine große Tüte mit niederländischem süßen Frühstückskuchen ab.

Mit dieser großen Ausbeute stapften wir zurück zum Auto, wo wir um 15:25 Uhr ankamen und endlich das Geheimnis um das Preisgeld lüften konnten. Meine Erwartungen wurden gar übertroffen, denn es lugten plötzlich 150 € aus dem Kuvert. Ein breites Grinsen zog sich fortan durch mein Gesicht und ist den gesamten Heimweg nicht mehr gewichen.
Wenn man nichts erwartet, kann man nur positiv überrascht werden. Dieses Phänomen zeigt sich immer und immer wieder, besonders bei solch schönen Läufen wie dem heutigen!


Auf die nächsten 50 (Ultra-)Marathons!

Zahlen & Fakten

Distanz

 

Gelaufene Zeit (Netto)

 

Gelaufene Zeit (Brutto)

 

Altersklasse

 

AK-Platzierung

 

Platzierung (Männer)

 

Gesamtplatzierung

50 km

 

03:24:33 Std.

 

03:24:33 Std.

 

Men Sub 35

 

1. von 8

 

2. von 49 (4,1 %)

 

2. von 61 (3,3 %)