9. Mauerweglauf 100 Meilen Berlin

14.08.2021

Vorgeschichte

Irgendwann vor vielen Jahren hörte ich von einem geschichtsträchtigen 100-Meilen-Lauf rund um West-Berlin auf den Spuren der ehemaligen Berliner Mauer. Sobald sich dieser Lauf im Ultramarathon-Kalender immer mehr etablierte, wurden auch die begrenzten Startplätze jedes Jahr begehrter. All das änderte jedoch nichts an meiner Meinung, dass es für mich unvorstellbar war, im Hochsommer 161 Kilometer am Stück zu rennen. Diesen Quatsch sollen ruhig all die Verrückten machen, denen ein gemütlicher Landschaftsmarathon zu unspektakulär ist. Das war der Standpunkt bis zu meinem insgesamt 84. (Ultra-)Marathon …

Rund um meinen 30. Geburtstag jährte sich mein Marathonlaufen zum zehnten Mal, sodass ich mir gern ein kleines Geschenk bereiten wollte. Das erste Geschenk bescherte mir jedoch Günter, der an meinem 30. Geburtstag (1. November 2020) den 9kirchener Bergroute-Marathon veranstaltete und den ich trotz Katerstimmung einigermaßen gut über die Bühne bringen konnte.

Das zweite Geschenk schlummerte seit ein paar Tagen in meinem Kopf und drehte sich um mein bevorstehendes 100. Marathonjubiläum, das ich voraussichtlich im Sommer 2021 feiern wollte. Es sollte ein besonderes Event sein, das trotz andauernder Corona-Pandemie bestenfalls normal stattfinden sollte. Aus diesem Grund verzichtete ich auf einen großen City-Marathon und schaute mich vielmehr im Ultramarathon-Bereich um.

Allzu lang musste ich nicht suchen, denn terminlich kam nur eine attraktive Veranstaltung infrage, wenngleich mir die Distanz doch etwas zu lang vorkam: Der Berliner Mauerweglauf.

100 Kilometer zum 100. Jubiläum hätten eigentlich gereicht, war mein erster Gedanke. Dennoch wurde ich diesen 100-Meilen-Lauf irgendwie nicht mehr los, dachte fortan jeden Tag daran und musste mich zudem zeitnah entscheiden. Am 9. November 2020 um 18:57 Uhr öffnete die Voranmeldung für dieses begehrte Event, also exakt zu dem Zeitpunkt als Günter Schabowski 1989 die Reisefreiheit für DDR-Bürger mit folgenden Worten bekanntgab: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“

Dadurch, dass die Austragung des Laufs in 2020 Corona-bedingt abgesagt werden musste, waren nur noch wenige Restplätze für 2021 verfügbar; inklusive kleiner Aufstockung sprechen wir von 160 verfügbaren Startplätzen. Auch das übte einen gewissen Reiz auf mich aus und so entschied ich mich an meinem Geburtstag endgültig dafür, es am Abend des 9. November mit der Anmeldung zu versuchen.

Neben mir waren auch meine Schwester Nicole und ihr Mann Tobi an ihren Laptops bereit, um pünktlich um 18:57 Uhr das Anmeldeformular auszufüllen. Gleichzeitig telefonierten wir ganz aufgeregt miteinander und malten uns aus, was es bedeuten würde, im nächsten Sommer ein so aktives Wochenende in Berlin zu verbringen. Gerne wollte ich nicht nur meine Freundin Sophie, sondern auch Nicole & Tobi sowie meine Eltern bei dieser Veranstaltung dabeihaben. Aber all das konnte auch später geklärt werden.

Exakt um 18:57 Uhr öffnete endlich die Online-Anmeldung und dank der Autofill-Funktion in meinem Browser war ich nach nur einer Minute durch und konnte verbindlich auf „Anmelden“ klicken. Für eine Gebühr von 199 € erwartete mich ein absoluter Höhepunkt in meiner Läuferkarriere, ein Finishershirt, eine Finishermedaille und nicht zuletzt eine Gürtelschnalle, sofern ich das Ziel in unter 24 Stunden erreiche.

So richtig freuen konnte ich mich aber erst eine Stunde später, als die offizielle Bestätigungsmail in mein E-Mail-Postfach trudelte.

In den nächsten Wochen und Monaten stand neben dem vielen Training auch noch die Organisation einer Unterkunft bevor, die ich zunächst mit kostenloser Stornierbarkeit bei Booking.com gebucht hatte. Je näher der Termin jedoch rückte, desto interessierter war ich an einem etwas teureren Zimmer im Hotel Zarenhof in Prenzlauer Berg. Dieses Hotel wurde mir seitens einer Laufkollegin empfohlen und befand sich lediglich 350 Meter entfernt vom Start-Ziel-Gelände des Mauerweglaufs im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark.

Für 275,40 € hatten wir von Freitag bis Sonntag ein ordentliches Vier-Bett-Zimmer mit Kochnische reserviert, sodass wir am Abend vor dem Lauf auch in den eigenen vier Wänden Pasta kochen konnten. So vermied ich jegliche Extrameter und schonte meine Beine für das bevorstehende Abenteuer. 

 

Vorher

Zu Beginn des neuen Jahres hatte ich 86 (Ultra-)Marathons auf der Haben-Seite, sodass ich bis zum Mauerweglauf noch 13 weitere laufen durfte. Im Schnitt bedeutete dies, dass ich alle 2,5 Wochen irgendwo einen offiziell veranstalteten Marathon absolvieren musste. Das klingt zwar sehr ambitioniert, war aber als spezifische Vorbereitung auf einen 100 Meilen langen Non-Stop-Lauf gar nicht so verkehrt. Bedingt durch die Pandemie sammelte ich meist nur regionale Events mit überschaubaren Teilnehmeranzahlen, die mir aber nicht weniger Spaß bereiteten, als Läufe von internationalem Format. So lernte ich wunderschöne Ecken in direkter Nähe zu meiner Heimat kennen und traf bei fast allen Läufen immer wieder die üblichen Verdächtigen, mit denen das Plaudern ebenfalls Spaß machte.

Eine wichtige Standortbestimmung erfolgte am 26. Juni beim Heide-Ultra-Trail in Schneverdingen über die 80 km Distanz, die ich mit sehr gleichmäßigem Tempo (4:53 min/km) in einer Gesamtzeit von 06:31:07 Std. gewinnen konnte. Dieses Tempo wäre für mein Vorhaben in Berlin selbstverständlich zu schnell, aber es zeigte mir, dass mein bisheriges Training Früchte trägt.

Insgesamt blicke ich auf über 4.040 gelaufene Kilometer in den ersten 7,5 Monaten des Jahres zurück; das entspricht 539 km pro Monat und 126 km pro Woche. Dieses Pensum hatte ich in meinen bisherigen 14 Laufjahren noch nicht erreicht.

Umso schwerer fiel es mir, in den letzten zwei Wochen vor dem Mauerweglauf meine Füße still zu halten. Etwas Abhilfe schaffte Nicoles und Tobis kirchliche Hochzeit, die mir als Trauzeugen Ende Juli viel Orga-Zeit abverlangte. Diese Zeit wiederum fehlte mir fürs Laufen, was meiner physischen Regeneration tatsächlich guttat. Die einzigen Wehwehchen, die am Ende doch noch aufkamen, stempelte ich als Phantomschmerzen ab, die ich mir aufgrund meiner Nervosität nur einbildete. Ich vertraute auf meine Erfahrung und hoffte, mit dieser Annahme richtig zu liegen.

Sechs Tage vor dem Lauf verbrachten wir den Sonntag bei meinen Eltern und nutzten ein paar gesellige Stunden auf der Terrasse mitunter für eine letzte organisatorische Besprechung. Damit meine Family mich nicht erst im Ziel begrüßen muss, sondern auch während des Rennens erfährt, wie es mir ergeht, habe ich mehrere Streckenpunkte als mögliche Treffpunkte auserkoren. Zudem prognostizierte ich die Uhrzeiten, wann ich wo sein müsste, was in Anbetracht dieser langen und bisher unbekannten Distanz gar nicht mal so einfach war. Anfangs plante ich mit einem Lauftempo zwischen 5:00 und 5:30 min/km, später sogar mit 6:00 min/km, was schlussendlich zu einer Zielzeit von unter 16 Stunden führen soll. Meine geplante und gewünschte Ankunftszeit nach 161 km war somit 22:00 Uhr abends.

Meine Liebsten schienen mit diesem Plan und meinen empfohlenen Treffpunkten einverstanden zu sein und ich freute mich sehr über unser konstruktives Meeting, das mir sicher einigen Stress am Rennwochenende ersparen würde. Ein kleiner Stein fiel von meinem Herzen und schaffte Platz für Nervosität, die nun von Tag zu Tag größer wurde.

In der letzten Woche vor dem Jubiläum war Packen angesagt. Zusätzlich zu meinen Laufklamotten und Ersatzlaufklamotten, Laufschuhen und Ersatzlaufschuhen sowie der ganzen Verpflegung, kam noch ein wenig Campingzeug hinzu, das wir für die Nacht von Sonntag auf Montag brauchten. Neben dem Anreisetag Freitag hatte ich auch am Montag Urlaub eingereicht und so planten Sophie und ich, die letzte Nacht des Kurztrips in der Nähe des Campingplatzes zu verbringen, den meine Eltern sich für ihren Aufenthalt in Berlin ausgesucht hatten.

Das letzte geplante To-Do auf meiner Liste, bevor die Reise nach Berlin starten konnte, war das Einrichten einer WhatsApp-Gruppe mit vielen Freunden und Familienmitgliedern. Es waren ca. 30-40 Personen, denen ich im Vorfeld von meinem Vorhaben berichtet hatte und die Interesse an meiner Idee dieses Live-Tickers hatten. Nachdem ich die WhatsApp-Gruppe in der Woche vor dem Event eröffnet hatte, wollte ich die Berichterstattung am Renntag natürlich in die Hände meiner Vor-Ort-Supporter geben. Ich selbst war natürlich schon jetzt gespannt auf die Reaktionen und freute mich darauf, den Chat am Sonntag nachlesen zu dürfen.

Nach einigen entspannten und langen Nächten in der ersten Wochenhälfte folgte von Donnerstag auf Freitag schon die erste nervöse, kürzere Nacht. Das hing auch damit zusammen, dass wir am Freitagmorgen spätestens um 8 Uhr nach Berlin aufbrechen wollten, um in keinen unnötigen Stau zu geraten. Da das Auto bereits gepackt war und wir nur ein kleines Frühstück auf die Hand und einen Kaffee-to-go brauchten, reichte es, um 7 Uhr aufzustehen. 

Alles war zeitlich getaktet und ließ wenig Platz für Verspätungen, doch an diesem Tag hatten wir Glück. Nach nur 3,5 Stunden Fahrt erreichten wir die 400 km entfernte Hauptstadt, wo mich Sophie hindurch manövrierte. Sie begründete es damit, dass sie für den morgigen Tag üben wolle, doch der eigentliche Grund war, dass sie noch eine kleine Überraschung für mich gebastelt hatte: Es handelte sich um ein personalisiertes Tagebuch, in dem ich meine Gedanken und Gefühle rundum dieses Wochenende festhalten durfte. Die Idee war mega schön und die vorgeschriebenen Inhalte sehr unterhaltsam. Vielen lieben Dank, mein Schatz!

Unser erster Stopp in Berlin erfolgte bei Sophies älterer Schwester Lisa, ihrem Mann Kai und deren kleinem Koa. Die Drei wohnen hier schon seit einigen Monaten, doch bisher hatten wir noch keine Gelegenheit, sie zu besuchen. Nach dem obligatorischen Wohnungsrundgang wurden wir noch bekocht und durften uns auf selbstgemachte Burger freuen. Freundlicherweise wurde ich vorher gefragt, ob das so kurz vor dem 100-Meilen-Lauf okay für mich sei. Tja, was soll ich sagen? - Ich bin schon häufiger einen Tag nach einem leckeren Burger laufen gewesen und ich kann mich nicht erinnern, dass mir dieser irgendwann geschadet hatte.

Da das Auto auf dem benachbarten Edeka-Parkplatz (90 Minuten Höchstparkdauer) stand, verabschiedete ich mich bereits gegen 13 Uhr wieder und brach in Richtung Hotel Zarenhof auf. Dass mich der 4 km kurze Weg geschlagene 45 Minuten gekostet hat, war kaum zu begreifen – schrecklich dieser Stadtverkehr. Zumindest passte es dann mit der geplanten Check-In Zeit von 14 Uhr, sodass ich keine Zeit mehr überbrücken musste.

In der Cantianstraße, neben der auch der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark lag, fand ich auf Anhieb einen freien Parkplatz, für den ich 9,75 € zahlte, um dort bis 9 Uhr des Folgetages stehen zu dürfen. Nicole und Tobi, die sich erst nachmittags auf ihren Weg nach Berlin machten, empfahl ich ebenfalls diesen Parkplatz. Er mag zwar mit 1 € pro Stunde nicht sehr günstig erscheinen, lag aber logistisch perfekt und sparte Zeit.

Auf dem Weg zum Check-In nahm ich schon möglichst viel Gepäck mit, wohlwissend, dass ich noch mindestens drei weitere Male zum Auto hin- und zurückmarschieren würde. Neben unseren Klamotten hatten wir Unmengen an Getränken und Verpflegung für den morgigen Tag eingekauft, die ich bei 30°C ungern im schwarzen Auto lagern wollte.

Sobald ich die Zimmerkarte ausgehändigt bekam, fiel mir die Kinnlade runter. Uns wurde doch tatsächlich das Zimmer mit der Nummer 100 zugewiesen. HUNDERT! Na wenn das mal kein gutes Omen war!

Das Zimmer erschien im ersten Moment sehr schön und gemütlich. Es fehlten lediglich Kochutensilien, wie ein Topf oder eine Pfanne, sowie ein viertes Teller- und Besteckset. All das durfte man sich in der Rezeption einfordern.

Nach knapp einer Stunde Klamottenschleppen und Abduschen ging ich ein weiteres Mal zurück zum 200 Meter entfernten Auto, wo sich noch Sophies Klapprad befand. Dieses nutzte ich für meinen 2,2 km langen Weg zum H4 Hotel am Alexanderplatz (Karl-Liebknecht-Straße 32), wo sich die Startnummernausgabe, das Race-Briefing und die Pasta-Party befanden.

Sobald mein digitaler Corona-Impfausweis überprüft war und ich mich mit der Luca-App vor Ort registriert hatte, erhielt ich ein grünes Bändchen um mein rechtes Handgelenk, das ich bis zur Siegerehrung am Sonntag anbehalten sollte. Im nächsten Schritt ging es zur Startnummernausgabe, wo zunächst das Gesundheitszertifikat überprüft wurde, das ich mir am 24. Juni bei meinem Hausarzt in Melle eingeholt hatte.

In dem ausgehändigten weißen Beutel befanden sich drei weitere farbige Beutel, die als Drop-Bags für die Verpflegungsstationen bei KM 59, 91 und 128 dienten. Da ich mein persönliches Supporter-Team bei mir hatte, verzichtete ich auf dieses Angebot seitens der Veranstalter.

Vielmehr interessierte mich meine Startnummer, die ich mir bereits am 10. November 2020 reserviert hatte. Auf meine freundliche Anfrage hin wurde mir die Zahl 100 zugesprochen, worüber ich mich natürlich riesig freute. Zusätzlich erhielt jeder Läufer einen personalisierten Zeitmess-Chip, der im Rennen an jeder Verpflegungsstation erfasst wird, sowie einen 350 ml großen gelben Faltbecher, durch den die Unmengen an Plastikmüll reduziert werden. Zwar war es irgendwie lästig, diesen Becher über 161 km mit sich mitzuschleppen, aber der Zweck ist absolut richtig und das Handicap hatten ja alle Teilnehmer gleichermaßen.

Die wohl größte Überraschung für mich Mauerweglauf-Neuling war der kleine Brocken echter Berliner Mauer, den wir uns bereits vor dem Lauf aussuchen durften. Ich wählte einen Stein, der mich in seiner Form an ein umgedrehtes Herz und in seinen Farben an einen Sonnenaufgang oder -untergang erinnerte. Ein perfektes Sinnbild für mein morgiges Vorhaben: Start bei Sonnenaufgang, Ziel bei Sonnenuntergang.

Der nächste Programmpunkt startete für mich um 16:15 Uhr bei dem offiziellen Briefing, das für Neulinge (Rookies) verpflichtend war. Wiederholungstäter durften sich die Aufzeichnung später auf YouTube angucken.

Besonders viel Neues erfuhr ich in den folgenden 45 Minuten nicht, da ich mich im Vorfeld schon ausgiebig mit der Ausschreibung und den häufig gestellten Fragen (FAQs) auseinandergesetzt hatte. Interessant war lediglich, dass die Sanitäter sich nicht um Kleinstbeschwerden wie Blasen an den Füßen oder einmaliges Erbrechen kümmern würden. Erst wenn es sehr viel ernster um einen Teilnehmer steht, wird eingegriffen. Ich wusste nicht so recht, ob mich diese Aussage beruhigen oder beängstigen sollte.

Sobald der Pflichtteil des Tages abgeschlossen war und meine Frage, ob Angehörige im Zielbereich auf mich warten durften, mit einem „Ja, wenn 3G.“ beantwortet wurde, bat man uns durch eine Hintertür aus dem Hotel hinaus.

Da meine gebuchte Pasta-Party aber noch ausstand, ging ich einmal um das Gebäude herum und betrat das H4 Hotel erneut von vorne. Der adrett gekleidete Türsteher wies mich darauf hin, dass mein Pasta-Party-Ticket nur noch 15 Minuten lang gültig sei und ich mich sputen müsse. Tja, das kommt davon, wenn man einen engen Zeitslot bucht, um danach noch möglichst viel vom Abend zu haben.

Folglich betrat ich den großzügigen Raum, in dem viele Sportler schon bei ihren Desserts waren. Schnell griff ich mir einen vorgewärmten Teller, schaufelte ordentlich Vollkorn-Fusilli mit Bolognese-Sauce drauf und fing an zu essen. Natürlich gab es dennoch ein paar Minuten Zeit für kurze Gespräche, sodass ich mich sehr darüber freute, als sich Mauerweglauf-2019-Sieger Sascha Dehling kurz zu mir gesellte. Wir kannten uns bereits vom Tiefbunker Marathon in Hamburg-Wedel, wo ich mich am Ende als Gesamtsieger noch ganz knapp vor Sascha behaupten konnte. Was das morgige Rennen betraf, so schätzte ich uns körperlich auf Augenhöhe ein, jedoch spielte ihm die Erfahrung aus vier Mauerweglauf-Teilnahmen gehörig in die Karten. Wir durften gespannt sein, wie der Tag für beide verlaufen würde.

Nachdem die laute Klingel allen Gästen unmissverständlich deutlich machte, dass die Pasta-Party für sie zu Ende ist, schnappte ich mir noch schnell ein kleines Eis aus der Kühltruhe und genoss dieses draußen im Warmen mit Blick auf den Berliner Fernsehturm.

Als ich zurück an unserem Hotel war, klappte ich Sophies kleines Rad zusammen und verstaute es wieder im Auto hinter dem Fahrersitz. Dieses kommt sehr wahrscheinlich morgen Nachmittag wieder zum Einsatz.

Zurück im Hotelzimmer war ich so platt, dass ich mich mal aufs Bett legte und mal auf den kleinen Balkon zurückzog. Ich telefonierte nochmal kurz mit meinen Eltern, die ebenfalls schon aufgeregt waren, und erzählte ihnen von meinen heutigen Erlebnissen. Danach wartete ich, bis Sophie gegen 18:30 Uhr im Hotel eintraf. Da auch sie ganz schön k.o. von der Anreise und den warmen Temperaturen war und wir uns bis zum Abendessen noch etwas Auszeit gönnen wollten, legten wir uns gemeinsam ins Bett und schauten die Vorberichterstattung des ersten Fußball Bundesliga-Spieltags … immerhin einer von beiden schaute diese :-)

Sobald klar war, dass Nicole und Tobi erst gegen 21 Uhr bei uns sein würden, starteten wir rechtzeitig mit dem Kochen. Das war mit den mangelhaften Küchenutensilien und dem geringen Platz alles andere als einfach, aber das Abendessen „zu Hause“ war dennoch allemal besser, als auswärts. Wer weiß, wie weit mich meine Füße heute noch getragen hätten bzw. wie viele Portionen Pasta ich mir in einem Restaurant hätte bestellen müssen, um satt zu werden.

Gegen 23 Uhr war es dann endlich soweit und mein organisatorischer Tag neigte sich langsam aber sicher dem Ende zu. Mein Laufoutfit samt neuer Schuhe (Hoka One One Carbon X2) sowie Startnummer, Zeitmess-Chip, Faltbecher und Laufgürtel lagen im Flur bereit. Daneben waren Vaseline, Sonnencreme und Nippelpflaster deponiert, die morgen wichtiger denn je sein werden. Außerdem hatte ich für mein kleines Frühstück helle Weizenbrötchen, Instantkaffee, eine Banane, Käse und Honig bereitgelegt – keine Experimente also!

Kurz vor dem Zu-Bett-Gehen überraschten Nicole und Tobi uns noch mit selbst designten Shirts, die den Aufdruck „Speedy Family on Tour“ trugen. Ich ahnte, dass auch meine Eltern im Beitz solcher schönen Shirts waren, und freute mich riesig über diese kreative Überraschung. So würde ich meine Liebsten ratzfatz am Streckenrand erkennen. Und noch ein bisschen mehr freute ich mich, als ich erfuhr, dass auch ich ein solches Shirt bekommen habe. Dieses wollte ich unbedingt auf meiner Schlussrunde im Stadion überreicht kriegen und mir vor Erreichen der Ziellinie überziehen.

Wenn schon die ganze Speedy Family beisammen ist, dann sollen das auch alle sehen!

 

Nach einer 4,5-stündigen, aber sehr guten Nacht klingelte mich mein Wecker um 4:15 Uhr wach. Da es ein recht offenes Hotelzimmer war und ich die anderen Drei nicht zu früh wecken wollte, verzog ich mich schnell in den kleinen Flurbereich, der zumindest durch eine Wand vom Rest separiert war. Hier bereitete ich mir mein Frühstück zu, trank meinen Kaffee und kleidete mich allmählich ein. Nicole und Tobi waren die nächsten, die wach wurden und mich permanent auslachten: „Patrick, es ist mitten in der Nacht, du sitzt da und isst eine Banane!“

Irgendwann wirkte das auch auf mich sehr skurril, sodass ich anfing mitzulachen. So langsam muss auch ich mich zu den Verrückten zählen, die an einem Samstag freiwillig kurz nach 4 Uhr aufstehen, um danach den ganzen Tag auf den Beinen zu sein. Verrückt ist wohl noch untertrieben.

Nachdem ich gut gegessen hatte und alle Vorbereitungen getroffen waren, schnürte ich mir ganz vorsichtig und bewusst meine neuen Laufschuhe. Diese waren heute das wichtigste Utensil und mussten am meisten aushalten. Es folgte ein letztes Selfie mit meinem Supporter-Team, bevor es für mich über den hoteleigenen roten Teppich hinaus ins Ungewisse ging. Knapp 20 Minuten waren es noch bis zum Startschuss um 6 Uhr.

Einen kurzen Lockerungslauf später erreichte ich den östlichen Eingang des Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportparks, an dem wieder das Einchecken mit der Luca-App sowie das Tragen einer FFP2-Maske erforderlich waren. Beim Rausholen meines Handys versuchte ich, Sophie anzurufen, um mit ihr nochmal über unseren ersten Treffpunkt zu sprechen. Da sie nicht ranging, blieb es bei dem Plan, dass wir uns am südlichen Ausgang des Stadions – etwa bei KM 1 – erstmals sehen würden.

Daraufhin riefen meine Eltern an, um mir unmittelbar vor dem Start nochmal viel Erfolg und viel Spaß zu wünschen. Auch auf das Wiedersehen mit ihnen freute ich mich riesig, musste mich dahingehend aber noch etwas gedulden. Deren Campingplatz lag bei KM 95 und ich rechnete damit, sie frühestens bei Verpflegungspunkt 10 (VP 10) bei KM 65,5 zu sehen.

Die letzten zehn Minuten vor meinem Abenteuer verbrachte ich nervös hin und her trippelnd und mit ein paar Leidensgenossen quatschend. Besonders gern erinnere ich mich an die Treffen mit Gabi und Ha-We, die solch lange Dinger schon häufiger gelaufen sind und mir mit aufbauenden Worten ein wenig die Nervosität nahmen.

In den eigentlichen Startbereich auf der Tartanbahn durften wir erst kurz vorm Start und natürlich ließ auch ich ein klassisches Vorher-Foto von mir knipsen. Mal sehen, wie das Nachher-Foto ausschauen wird!

Außerdem traf ich Sascha wieder, der durch seine Erfahrung weitaus entspannter als die meisten Teilnehmer wirkte. Hoffentlich färbt seine Ruhe ab, war mein Gedanke, und so nahm ich mir fest vor, mich am Anfang an seiner Taktik zu orientieren. Wahrscheinlich würde mich das davor bewahren, zu schnell loszurennen.

© Mauerweglauf Berlin
© Mauerweglauf Berlin

Als der Countdown angekündigt wurde, schlug mir das Herz bis zum Hals … ten, nine, eight … mein Blick ging nach links und rechts auf der Suche nach weiteren Favoriten … seven, six, five … nun gab es kein Zurück mehr … four, three … meine GPS-Uhr war ebenfalls bereit, mein rechter Zeigefinger lag auf dem Start-Knopf … two, one … GO!

Hochsommer, morgens 6 Uhr, mitten in Berlin. Ich hab‘ wohl einen an der Waffel!

© Mauerweglauf Berlin
© Mauerweglauf Berlin

Der Lauf

Mit hunderten Ultraläufern im Nacken bewegte ich mich auf die ersten Meter zu: Mein 100. (Ultra-)Marathon war gestartet! Die ersten 300 Meter verliefen im Uhrzeigersinn über die Tartanbahn, bevor es am südlichen Ende hinaus in Richtung Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion ging. An dieser Stelle durfte die Maske entsorgt werden und da es heute nicht um Sekunden ging, nahm ich ein paar Meter Umweg zum nächsten Mülleimer gern in Kauf.

Schnell formierte sich ein kleines Grüppchen aus fünf oder sechs Läufern, die gemeinsam den Ausgang des Sportparks erreichten, wo Sophie, Nicole & Tobi bereits laut jubelnd auf mich warteten. Nicole hielt dabei ein Schild mit der Aufschrift „Super Patrick!“ in den Händen – ihr Lieblingsspruch, wenn’s ums Anfeuern ging. Mit einem kleinen Kloß im Hals und Tränchen in den Augen konnte ich nicht mehr als Winken. Nach nur 800 Metern war klar, dass dies ein hochemotionaler Tag werden würde.

Als die große Bernauer Straße erreicht war, bogen wir rechts ab, passierten rechterhand zunächst den Mauerpark und wenig später linkerhand weitere Gedenkstätten der Berliner Mauer. Dass wir uns hier auf einer geschichtsträchtigen Route bewegten, war nicht zu übersehen. Zudem wurde die Stadt von einer morgendlichen Ruhe umhüllt, die perfekt zur Atmosphäre und dem Hintergrund dieses Rennens passte.

Auf den ersten 5 km, die uns Richtung Westen führten, gab es nur zwei rote Ampeln, die recht schnell auf Grün umsprangen. Alle weiteren Ampeln waren uns wohl gesonnen und bescherten eine Grüne Welle. Dass dieses Thema erwähnenswert ist, hängt damit zusammen, dass das Überqueren einer roten Ampel zu sofortiger Disqualifikation führt. Die Veranstalter schrecken auch nicht davor zurück, Läufer bei Missachtung dieser Regel kurz vorm Ziel aus dem Rennen zu nehmen.

Mit Erreichen des Berlin-Spandau-Schifffahrtskanals ging es nach links Richtung Süden schnurstracks auf das Regierungsviertel zu. Ich muss gestehen, dass ich aufgrund meiner Nervosität und Aufregung wenig von meiner Umgebung wahrgenommen habe. So übersah ich nicht nur wichtige Regierungsgebäude, sondern leider auch das Brandenburger Tor, das kurz hinter KM 7 rechts von uns zu sehen gewesen wäre. Dies ärgerte mich, zumal ich mich auf genau diese Höhepunkte Berlins besonders gefreut hatte. Einer meiner Laufkollegen sagte wenig später zu mir: „Dann siehst du es halt nächstes Jahr, wenn in entgegengesetzter Richtung gelaufen wird und du 7 km vorm Ziel nicht mehr so schnell sein wirst.“ Hmm, ob dieser Fall eintreten wird, wagte ich noch zu bezweifeln.

Bei KM 8,6 war mit dem Checkpoint Charlie eine weitere Sehenswürdigkeit erreicht. Hier passierten wir auch den ersten Verpflegungspunkt, den ich ebenfalls fast übersehen hätte. Noch war ich nicht durstig und so lief ich den führenden Männern einfach hinterher, ohne mich allzu lange ablenken zu lassen. Bis einschließlich KM 10 war mir der Rennverlauf definitiv zu unruhig, was nicht nur an den schnellen Jungs, sondern ebenfalls an weiteren roten Ampeln lag. Mir schien, dass die Gruppe die Zwangspausen wieder reinholen wollte, obwohl dieses Intervalllaufen nicht wirklich förderlich ist (KM 6 bis 10 in 5:38 min, 4:44 min, 6:29 min, 4:39 min und 4:15 min).

Da wir uns immer noch mitten in der City befanden, waren diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten wohl kaum zu vermeiden. Ich versuchte, mich auf eine gleichmäßige Atmung und einen möglichst gleichmäßigen Rhythmus zu konzentrieren, während es dem nächsten Highlight entgegenging. Bei KM 13,4 erwartete uns die bunte East Side Gallery, die ich zum Glück sehr bewusst wahrgenommen habe. Um auf Nummer Sicher zu gehen, dass dies kein Traum war, haute ich mit der rechten flachen Hand ordentlich gegen einen Rest der Berliner Mauer. Ja, es tat ein wenig weh, und ja, es war kein Traum: Ich laufe tatsächlich 100 Meilen um West-Berlin!

Nachdem die Spree schon zweimal überquert wurde, folgte bei KM 13,8 über die imposante Oberbaumbrücke die dritte und letzte Überquerung des bekannten Flusses. Der nächste Abschnitt entfernte sich zunehmend von der Innenstadt in südöstliche Richtung und führte uns vermehrt durch begrünte Flächen und an kleinen Flüssen und Kanälen vorbei. Besonders blieb mir der perfekt asphaltierte Parkweg links vom Heidekampgraben (KM 18,7 bis 20,8) in Erinnerung, der bereits einen Eindruck davon vermittelte, wie grün und naturverbunden die heutige Strecke noch werden könnte.

Während die meisten aus unserer Führungsgruppe – wie auch ich – den dritten VP bei KM 19,2 links liegen ließen, machte ich mir erstmals Gedanken darüber, wer von uns zu den Favoriten zählte und wer sich gegebenenfalls übernommen haben könnte. Zwischenzeitlich bestand unsere Gruppe aus sieben bis acht Läufern, die ich ehrlicherweise zweiteilen würde: Dreien traute ich definitiv einen Treppchenplatz zu, Dreien wiederum leider nicht. Mich sah ich irgendwo dazwischen, sofern alles glatt lief und mir nichts Schlimmes zustößt.

Nach Überqueren der Britzer-Allee-Brücke bei KM 21,4 und einem knapp 1 km langen Abschnitt entlang des Britzer Verbindungkanals, ging es bis einschließlich KM 28 zwischen Teltowkanal und der Autobahn A113 stumpf geradeaus Richtung Südosten. Auch hier gab es herrlichen Asphalt unter den Füßen, den aber auch Rennradfahrer für sich beanspruchten, was die Strecke wiederum etwas gefährlicher machte. Außerdem schien mittlerweile die Sonne vom Himmel und von Schatten war hier nichts zu sehen.

Vom vierten VP bei KM 24,9 machte ich diesmal etwas mehr Gebrauch, indem ich mir einen Becher Wasser eingießen ließ, diesen auf Ex trank und mir anschließend einen halben Becher Cola gönnte. Dazu gab es ein kleines Stück Energieriegel, das ich mir mit auf die Strecke nahm und von dem ich einige Zeit zerrte. Hunger hatte ich zwar noch nicht, aber man konnte nicht früh genug damit anfangen, seine Reserven wieder aufzufüllen.

Durch den Verpflegungsstopp einiger Läufer zog sich die Gruppe erstmals deutlich in die Länge und es dauerte bis zum besagten Ende der langen Geraden bei KM 28, bis die meisten wieder zusammen waren. Das Tempo pendelte sich auf diesem Stück bei etwa 4:45 min/km ein, was mir persönlich 15 sec/km zu schnell war. Doch besser etwas zu schnell zu starten, als von Beginn an allein zu laufen.

Während wir bei KM 28,1 unter der große Teltowkanalbrücke auf grünes Ampellicht warteten, hätte ich ein Hinweisschild entdecken müssen. Und doch übersah ich es: Auf der anderen Straßenseite war die Gedenkstätte für das verstorbene Maueropfer Dieter Berger errichtet, dem der heutige Mauerweglauf gewidmet war. Jeder Teilnehmer war dazu aufgerufen worden, ein kleines Kärtchen für Dieter zu schreiben und dieses auf einer großen Pinnwand anzubringen. Dieses Kärtchen hatte ich in einem kleinen Folienbeutel in meinem Laufgürtel dabei und doch lief ich mit einem Tunnelblick an der Gedenkstätte vorbei. Weitere Läufer taten es mir gleich und ich bemerkte meinen Faux-Pas erst einige Zeit später, als nämlich Sascha Dehling – wissend und wollend – den Anschluss verlor. Er kannte diese Tradition mitunter am besten und legte eine kurze Schweigeminute ein. Ich hingegen schämte mich ein wenig für mein Verhalten, einfach weitergelaufen zu sein. Andererseits erschien mir ein Umkehren auch nicht sehr förderlich für meinen Rhythmus.

© Mauerweglauf Berlin
© Mauerweglauf Berlin

Nachdem der östlichste Punkt des großen Rundkurses erreicht war und es neben der A113 weiter Richtung Süden ging, passierten wir einen weiteren Verpflegungspunkt bei KM 31,4 (VP 5), den ich diesmal aber wieder unbeachtet ließ. Mein Fokus galt vielmehr VP 6, wo ich mit Sophie, Nicole & Tobi rechnete und wo ich erstmals etwas länger pausieren und mich verpflegen wollte.

Die Drei hatten in der Zwischenzeit knapp 3 Stunden zur Verfügung gehabt, um sich morgens im Hotel fertig zu machen, eine Kleinigkeit zu frühstücken und den 16,7 km langen Fahrtweg vom Hotel zum VP 6 „Buckow“ zurückzulegen.

Doch bevor das erste Wiedersehen zelebriert werden konnte, stand uns bei KM 34 eine kleine Bewährungsprobe bevor. Plötzlich erhob sich ein Hügel namens „Dörferblick“ vor uns, der nicht umrundet werden sollte, sondern den es über einen Anstieg zu erklimmen galt. Auf gut 400 Metern sammelten wir fast 40 Höhenmeter, um danach über eine steinerne Treppe wieder hinabzulaufen. Es war ein kleiner Spaß, der seitens der Läufer mit entsprechenden Sprüchen kommentiert wurde.

Für zusätzliche Abwechslung und Unterhaltung sorgten bei KM 38,9 die lauten Anfeuerungsrufe meiner ganzen Speedy Family! Neben Sophie, Nicole & Tobi sind auch meine Eltern zum ersten Treffpunkt gekommen und haben mich nicht nur mit den neuen Shirts, sondern auch mit zwei großen selbst gebastelten Plakaten überrascht. Auf einmal herrschte Partystimmung und es tat mir beinahe leid, hier nur so kurz anhalten zu wollen.

Sophie reichte mir eine große Wasserflasche, während ich mich am Verpflegungstisch diesmal nur mit einigen Crackern und Salzstangen versorgte, die ich in Kombination mit noch mehr Wasser recht gut hinunter bekam. So konnte ich meinen Salzhaushalt mit leicht Verdaulichem ein wenig auffüllen.

Als ich nach meinem Befinden gefragt wurde, antwortete ich nur: „Die Jungs sind mir etwas zu schnell, aber sympathisch. Von daher versuche ich, dranzubleiben.“ Sascha musste etwas schmunzeln und konnte damit rechnen, dass ich versuchen würde, das bisherige Tempo beizubehalten. Ein groß gewachsener Däne, der mir bekannt vorkam, war uns bereits enteilt, sodass wir nun die erste Verfolgergruppe waren. Nach einer gut einminütigen Pause setzten wir uns um 9:10 Uhr wieder in Bewegung und strebten dem ersten Marathon des Tages entgegen.

Ab KM 40,5 tauchten wir in einen kleinen Grenzwald ein, durch den vorwiegend ein Singletrail hindurchführte. Zu diesem Zeitpunkt hat sich aus dem kleinen Grüppchen nur noch ein Duo oder höchstens ein Trio gebildet. Der Däne lief vorneweg, woraufhin der angekündigte Topfavorit – ein kleiner Spanier – folgte. Er war derjenige, zu dem Sascha und ich noch Sichtkontakt halten konnten, während die Lücke hinter uns zunehmend größer wurde. Wenn diese Konstellation so bliebe, durfte ich zumindest mit Platz Vier liebäugeln. Aber bis es soweit war, sollte noch seeehr viel Zeit vergehen.

Als unsere GPS-Uhren nach 42 km piepten, waren wir auf unsere Marathon-Durchgangszeit gespannt. Diese lag etwa bei 03:27 Stunden, was für das heutige Vorhaben zu flott erschien. Sascha entgegnete nur: „Das sollten wir vielleicht keinem erzählen. Es gibt zu viele, die das in einem reinen Marathon nicht schaffen.“ Recht hat er! 

Wir liefen entspannt weiter und pirschten uns mit jeder Minute weitere Meter an den Spanier heran. Auf langen Geraden konnten wir ihn vor uns sehen, doch jetzt schon taktierend an die Sache heranzugehen, war wohl zu früh. Bei KM 43,2 verließen wir den schmalen Grenzwald in westlicher Richtung und durchliefen das Viertel Lichtenrade am südlichsten Punkt des Rundkurses. Hier gab es eine leichte Abkürzung des offiziellen Mauerwegs, damit die Event-Distanz bei ziemlich genau 100 Meilen hinauskommt.

Am nächsten Verpflegungspunkt (VP 7) bei KM 46,5 tauchten wir wieder in den schattigen Wald ein und liefen über einen gut asphaltierten Abschnitt des Mauerwegs. Aufgrund meiner kurzen Trinkpause wurde nicht nur die Lücke zu Sascha etwas größer, sondern insbesondere die zum vor uns laufenden Zweiten. Dieser hatte von nun an einen Radbegleiter neben sich, der ihn zu versorgen schien. Ein wenig wunderte es uns schon, denn offiziell angemeldete Radbegleiter durften erst ab VP 9 bei KM 59,3 am Sportplatz Teltow hinzustoßen. Aber es sollte mich nicht weiter beschäftigen, zumal ich mit dem Thema Radbegleitung vorerst nichts am Hut hatte.

Auf dem Weg bis KM 50 änderten sich die Streckenverhältnisse dahingehend, dass aus dem Asphalt große Betonplatten wurden. Hier und da musste auf vorstehende Kanten oder Grasbüschel zwischen den Platten geachtet werden, aber auch dafür reichte die Konzentration noch allemal.

Als wir bei KM 50,1 eine Fußgängerampel erreichten und an dieser mal wieder auf grünes Licht warten mussten, nutzte ich die Gelegenheit, um erstmals etwas Wasser zu lassen. Es war zwar noch nicht dringend, aber so konnte ich der Zwangspause durch die rote Ampel noch was Gutes abgewinnen. Auf der anderen Straßenseite ging es weiter schnurgeradeaus, bis bei KM 51,5 eine Linkskurve und bei KM 52,5 VP 8 folgten. Hier griff ich nur schnell zu ein paar Salzstangen und ließ mir einen Becher Wasser eingießen, bevor es bis KM 53,7 weiter nur geradeaus ging.

Die folgenden fünf Kilometer verliefen für uns super gleichmäßig in einem Schnitt von 4:50 min/km, womit ich zu diesem Zeitpunkt mehr als zufrieden sein konnte. Außerdem bemerkte ich mit Erreichen des Teltowkanals kurz vor KM 56, dass wir uns wieder der Innenstadt annäherten. 

Ab KM 59,1 ging es auf dem linken Gehweg weiter Richtung Sportplatz Teltow, während mir auf der gegenüberliegenden Seite zunächst der schwarz gekleidete Däne und wenig später der kleine Spanier entgegenkamen. War ich falsch? Habe ich mich verlaufen? Noch bevor ich die GPS-Navigation auf meiner Uhr aktivieren konnte, entdeckte ich den nächsten weißen Pfeil, der mich unmissverständlich nach links wies. Ich war also nach wie vor richtig, was nicht nur der Pfeil bestätigte, sondern auch mein Vater, der laut jubelnd nach mir rief. Meine Eltern sind auch hier überraschenderweise erschienen und unterstützten mich so gut sie konnten.

Während ich mir bei KM 38,9 nur eine Minute Pause gegönnt hatte, wurden es hier ganze drei. Zu dem vielen Wasser gab es wieder Cracker und Salzstangen sowie etwas Obst. Von allem immer nur ein bisschen, damit es nicht zu schwer im Magen liegt.

Unterdessen teilten mir meine Eltern mit, es gäbe hitzige Diskussionen rund um den Spanier, der tatsächlich verbotenerweise zu früh auf seine Radbegleitung zugegriffen hat. Es stand eine ein- bis zweistündige Zeitstrafe zur Debatte, die mir und meiner potentiellen Platzierung in die Karten spielen könnte. Doch noch konnte niemand sicher sagen, wie darüber entschieden wird, und so musste ich mit einem etwas komischen Gefühl zurück auf die Strecke. Mal schauen, wie lange mich diese Geschichte noch beschäftigen würde.

Ich verabschiedete mich schließlich von meinen Eltern, die dringend darum baten, dass ich auf mich aufpassen sollte. Gleichzeitig freute ich mich schon auf das nächste Wiedersehen.

Von nun an lief ich alleine weiter, da Sascha sich eine etwas längere Pause erlaubte. Ich war gespannt, ob und wann es zu einem erneuten Aufeinandertreffen kommen würde. Und so ging es wieder am Teltowkanal zurück zur nächsten Brücke, die mich auf die andere Uferseite brachte. Zwischen KM 60 und 65 sah ich mehrere Grünflächen und idyllische Siedlungen, die mich nicht glauben ließen, hier durch die größte Metropole Deutschlands zu laufen. Diese positive Ablenkung tat mir gut und ließ mich weiterhin ein Tempo im Bereich von 4:50 min/km abspulen. So durfte es gern weitergehen!

Bei KM 65,4 – am VP 10 Königsweg – erwarteten mich Sophie, Nicole & Tobi zum dritten Mal an diesem Tag (nach KM 1 und KM 38,9). Für den knapp 35 km langen Fahrweg hatten sie über zwei Stunden zur Verfügung, was noch recht komfortabel war. Wir alle wussten jedoch, dass die Taktung unserer Treffpunkte ab sofort enger werden würde. Dadurch würden auch meine Pausen länger dauern, was aber kein Problem war, denn auf ein-zwei Minuten mehr oder weniger kam es mir nicht an.

Wie am vorherigen Treffpunkt kurz mit Sophie besprochen, reichte sie mir bei KM 65,4 eine kleine Wasserflasche, in der eine Magnesiumtablette aufgelöst war. Der Grund waren leichte muskuläre Verspannungen in den Waden, die ich bei KM 30 verspürt hatte und die mittlerweile wieder besser geworden sind. Vielleicht hatte dieser halbe Liter auch nur einen psychologischen Effekt, wer weiß.

Nach knapp zwei Minuten Pause, in der ich wieder ein paar Cracker aß, verabschiedete ich mich winkend von meinem Supporter-Team und machte mich auf in den schattigen Düppeler Forst. Vor mir lag eine 6 km lange Gerade, die zunächst über Asphalt, später über einen gut zu laufenden Schotterweg führte. Ein leicht welliges Profil machte diesen Abschnitt etwas attraktiver und zudem waren die Kräfte noch soweit vorhanden, dass eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 4:49 min/km möglich war.

Außerdem ereignete sich zum Ende der langen Waldpassage hin ein bedeutsamer Positionswechsel: Der große Däne vor mir hatte sichtbar zu kämpfen und musste federn lassen, während Sascha hinter mir zwar zu hören war, mich aber nicht mehr überholte. Dies hatte zufolge, dass ich ab KM 70 erstmals alleiniger Zweiter war. Natürlich war diese Position nur vorübergehend und auch ich musste irgendwann mit ersten Wehwehchen rechnen, doch noch fühlte ich mich topfit.

Mit Verlassen des Düppeler Forsts folgte eine kleine Brücke über den Teltowkanal, woraufhin 900 Meter weiter ein Schotterweg zum nächsten Verpflegungspunkt (VP 11) hinabführte. Auch hier waren unzählige Leckereien aufgetischt, von denen ich gern gekostet hätte, doch Experimente wollte ich vorerst nicht wagen. Die Wahl fiel wieder auf Wasser, Cola, Salzstangen, Cracker und Wassermelone. Diese Kombi tat mir gut und schmeckte nach wie vor.

Der nächste Abschnitt verlief links des Teltowkanals durch die Ortschaft Neubabelsberg und ich konnte erahnen, dass nun die etwas schickere Gegend mit viel Nähe zu Wasser folgen würde. Es ging erneut einmal über den Teltowkanal, anschließend mit der Glienicker Brücke über die Havel und schließlich am Ufer des schönen Jungfernsees entlang. 

Bei KM 77,6 passierte es erstmals, dass ich einen Pfeil übersah und so lief ich an einer Parkwegkreuzung zunächst ein paar Meter geradeaus. Als ich mir nicht sicher war, ob ich richtig lief, kehrte ich um und wählte bei der kleinen Kreuzung erneut den falschen Weg. Erst dann hatte ich den GPS-Track auf meiner Uhr aktiviert bekommen und wusste, wo es langging. Die halbe Minute, die ich dadurch verloren hatte, war zu verschmerzen.

Wenig später war VP 12 an einem Biergarten erreicht, wo abermals Sophie, Nicole & Tobi auf mich warteten. Hier teilte man mir mit, dass der Vorsprung des aktuell Führenden schmolz und ich Chancen hatte, ihn einzuholen. Wer hätte das gedacht?

Obwohl mich diese Botschaft unglaublich motivieren müsste, dauerte mein Verpflegungsstopp hier erneut drei Minuten. Und da der Spanier vom Fahrrad aus verpflegt wurde, war sein Vorsprung abermals um drei Minuten angewachsen. 

Das sollte mich nicht weiter irritieren und so konzentrierte ich mich auf den anstehenden Abschnitt, bei dem mich meine Schwester Nicole auf dem Cityroller begleiten wollte. Um nicht gegen die Wettkampfregeln zu verstoßen, fuhr Nicole leicht versetzt hinter mir und verpflegte mich währenddessen natürlich nicht. Wir nutzten die folgenden Kilometer dazu, den heutigen Tag aus Supporter-Sicht zu besprechen. So erfuhr ich unter anderem, dass die Autofahrten sowie die Parkplatzsuche bisher recht reibungslos verliefen. Auch waren alle Drei noch recht fit, obwohl auch deren Tag sehr früh morgens gestartet war. Diese Informationen beruhigten mich ein wenig und stimmten mich optimistisch, dass auch die zweite Rennhälfte für alle Beteiligten irgendwie zu schaffen sein dürfte.

Zwischen KM 80 und 82 war ein Schnitt von 4:54 min/km möglich und wir bemerkten, dass ab sofort weniger Laufkilometer vor mir lagen, als hinter mir. Für die erste Hälfte sind gut 6:43 Stunden draufgegangen, was hochgerechnet zu einer Wahnsinns-Zielzeit von 13:26 Stunden führen könnte. Da aber auch die zunehmende Erschöpfung und längere Pausen ein Wörtchen mitreden würden, rechnete ich eher mit einer Zielzeit um 15 Stunden herum.

Ab KM 82 verlief unsere Laufroute leicht abseits der Hauptstraße „Am Wiesenrand“ durch ein kurzes, welliges Waldstück. Nicole hatte es hier schwer hinterherzukommen und ließ mich somit vorlaufen, zumal nun ein ganz besonderer Moment bevorstand: Ich holte den Spanier ein und überholte ihn sogar. Ich war Führender! Ich war baff! Mir erging es ähnlich, wie dem kreativ bemalten Baumstumpf links neben dem Radweg …

Auch Nicole war ganz aufgeregt, da sie den Überholvorgang ja live miterlebt hatte, hielt sich auf dem folgenden Stück aber dezent im Hintergrund. Anlass dazu gab auch der offizielle Radbegleiter, den die Veranstalter dem Führenden an die Seite stellten. An dem westlichsten Punkt des Rundkurses schloss er zu mir auf und fragte, ob ich Deutsch verstehe. Ich bot ihm Deutsch, Polnisch und Englisch an, woraufhin seine Wahl auf Deutsch fiel. Er freute sich sehr darüber, nach fast sieben Stunden jemanden zum Quatschen zu haben, nachdem die zuvor Führenden aus Dänemark und Spanien stammten. Doch ob ich noch so redselig war, um ausführliche Dialoge zu führen, wagte ich zu bezweifeln.

Der nächste Abschnitt führte im Uhrzeigersinn um den Krampnitzsee herum und ich sehnte mich der nächsten Verpflegungsstation entgegen. Nach mehreren Kilometern ohne Schatten war das Verlangen nach Wasser jedes Mal besonders groß, sodass ich am VP 13 bei KM 84,5 gleich mehrere Becher Wasser mit Cola exte. Zudem gab es diesmal ein Stück Apfel, dessen Schale gleich beim ersten Bissen zwischen meine zwei Schneidezähne geriet. Zum Glück waren Sophie und Tobi zu diesem Treffpunkt erschienen, sodass Sophie mir in Sekundenschnelle Zahnseide reichen konnte. Das nenne ich mal Service – DANKE!

Knapp drei Minuten vergingen, eh ich mich wieder auf den Weg machte. Leider hatte meine Verpflegungspause zufolge, dass mich der Spanier wieder überholte und ich nach kurzer Dauer (KM 82 bis 84,5) wieder Zweiter war. Da das Rennen noch lange nicht zu Ende war, ließ ich mich davon aber nicht beirren und spulte weiter mein eigenes Tempo ab. Dieses lag trotz meiner vielen Stopps weiterhin bei etwa 5:00 min/km, womit ich dem Topfavoriten schnell wieder auf die Pelle rückte.

Die folgenden 6,2 km bis zum nächsten VP waren geprägt von einem schattigen Waldweg durch den großen Königswald, stets links der Ufer des Krampnitzsees, Lehnitzsees und Jungfernsees. Teilweise erwarteten uns Singletrail-ähnliche Pfade mit tiefhängenden Ästen, sodass ich mich glücklich schätzte, meinen zweiten Überholvorgang noch auf einem breiteren Waldweg geschafft zu haben.

Zwischen KM 88 und 90,8 erneut führend versuchte ich, meine Trinkpause am schönen Schloss Sacrow (VP 14) möglichst kurz zu halten. Dennoch sind knapp zwei Minuten vergangen, nach denen ich wieder Zweiter und somit erster Verfolger war. Dieses ständige Hin und Her bereitete mir Spaß und ich war mit beiden Positionen mehr als glücklich. Möge der Bessere von uns beiden gewinnen, dachte ich mir in diesen Momenten. Die potentielle Zeitstrafe gegen meinen Kontrahenten hatte ich tatsächlich wieder verdrängt.

Der nächste Abschnitt führte über die leicht wellige Kladower Straße zwischen Sacrower See und Havel hindurch und erinnerte mich von der Umgebung sehr an Urlaub in der Lüneburger Heide oder in Holland. Dass meine Eltern sich ausgerechnet hier einen Campingplatz für ein verlängertes Wochenende ausgesucht hatten, war voll nachvollziehbar. Auch hier war von Big City Berlin nichts zu spüren.

Da meine Eltern ihre Hündin Tesla bei sich hatten, legten sie nach den ersten zwei Treffen heute Morgen eine kurze Mittagspause am Campingplatz ein. Und tatsächlich warteten sie etwa bei KM 95 am Streckenrand auf mich und feuerten mich wieder an. Doch da hier keine Verpflegungsstation aufgebaut war, hielt ich diesmal nicht an und verabschiedete sie gleich wieder. Ein weiteres Treffen war für VP 18 bei KM 116 geplant.

So konnte ich die 7 km zwischen KM 91 und 98 recht gleichmäßig in einem Schnitt von 4:55 min/km abspulen. Für eine dritte Überholung des Spaniers reichte dieser ambitionierte Abschnitt allerdings nicht.

Erst als der Groß Glienicker See rechts hinter mir lag und ich mich VP 15 (Pagel & Friends) bei KM 98,3 näherte, entdeckte ich den blauen Rücken des kleinen Läufers sowie seinen Radbegleiter. Obwohl mein nächster Stopp unmittelbar bevorstand und ich wusste, dass der Spanier nicht anhalten würde, überholte ich ihn symbolisch ein drittes Mal. Wer weiß, ob und wann ich ihn auf der Strecke wiedersehen würde.

Die Corona-bedingten Regeln, dass nur die freiwilligen Helfer mir etwas von den Lebensmitteln reichen durften, wurden hier überaus streng befolgt. Dementsprechend dauerte es überdurchschnittlich lange, bis ich meine drei Cracker und sechs Salzstangen in der Hand hatte. Etwas verärgert, aber auch schon ordentlich müde machte ich mich wieder auf die Strecke. Sophie, Nicole und Tobi spazierten ein paar Meter mit und unterhielten sich etwas mit mir. Der rege Austausch zu diesem Zeitpunkt tat mir extrem gut und es war womöglich eines der wichtigsten Treffen bisher für mich. Die Drei bewahrten mich unter Umständen vor einem psychologischen Tief, indem sie mir vor Augen führten, dass schon HUNDERT Kilometer geschafft waren und nur noch weniger als anderthalb Marathons vor mir lagen. Kaum zu glauben, dass mich SOWAS motivieren kann, aber es war genau das, was ich brauchte!

Nach der dreiminütigen Unterbrechung verabschiedete ich mich von den Dreien und lief dem nächsten Etappenziel entgegen. Rechts der Potsdamer Chaussee ging es gut vier Kilometer im Schnitt von 05:04 min/km Richtung Norden, bevor es bei KM 103,7 scharf nach links in eine schmale Gasse neben der Kleingartenanlage Karolinenhöhe ging. Hier befand sich bereits der nächste VP 16, wo ich abermals zu Wasser und Cola sowie einigen Salzstangen griff. Ich wurde darüber informiert, dass der Führende nicht allzu weit vor mir sei, doch das brachte mich trotzdem nicht von meinem gewohnten Pausenrhythmus ab. Wieder waren es knapp drei Minuten, die ich brauchte, um loslaufen zu können bzw. zu wollen.

Der nachfolgende Abschnitt führte links am Hahneberg vorbei weiter Richtung Norden. Nachdem ich bei KM 107 knapp 30 Sekunden an einer roten Ampel warten musste, konnte ich ein paar weitere Kilometer in knapp unter 5:00 min/km abspulen. Noch schien alles recht reibungslos zu funktionieren, aber ich merkte so langsam, dass dieser 5er-Schnitt auf den letzten 50 km kaum noch zu halten sein würde. Einerseits hing dies mit meinen müden Beinen zusammen, andererseits waren es die Sonne und die Temperaturen von 30°C, die mich immer nur an die nächste Wasserstation denken ließen. Keinen einzigen VP würde ich jetzt noch auslassen.

Kurz vor VP 17 bei KM 110,2 an der Falkenseer Chaussee war ich etwa auf der Höhe des Start-Ziel-Punktes: Der längere Teil des Rundkurses im Süden lag hinter mir, der kürzere Teil im Norden noch vor mir.

Zur Belohnung machte ich diesmal mit knapp fünf Minuten eine noch längere Pause und gönnte mir wieder ein kurzes Gespräch mit Sophie, Nicole & Tobi, die scheinbar auch ihren Spaß hatten. Der Verpflegungsstand war glücklicherweise etwas abseits des Mauerwegs im Schatten eines großen Baumes positioniert, was natürlich zum längeren Verweilen einlud. Auf die Idee, mich dort auf einen der Hocker zu setzen, kam ich zum Glück nicht. Das Aufstehen und Loslaufen wären fatal geworden.

Irgendwann konnte ich mich endlich von den Leckereien lösen und mich wieder auf den sonnigen Mauerweg begeben. Das tapfere Trio begleitete mich wieder ein paar Meter und gab mir motivierende Worte mit auf den Weg. Mit 10:12 min war dies mein bisher langsamster Kilometer und um es an dieser Stelle vorwegnehmen zu dürfen: Er sollte auch der langsamste bleiben!

Wie erwartet wurde es ein wenig langsamer, doch mit den folgenden 5,8 km im 5:17 min/km Schnitt durch den Spandauer Forst war ich durchaus zufrieden. Zudem wechselten sich Schatten und Sonne wieder häufiger ab und ich hatte nicht mehr das Gefühl, alle paar hundert Meter Wasser zu brauchen.

Der nächste VP 18 war als weiterer Treffpunkt mit meinen Eltern geplant und ich freute mich darauf, diesmal etwas mehr Zeit mit ihnen zu haben. Zum Glück ging es mir nicht mehr so schlecht, wie bei KM 98,8, sodass sich meine Eltern hoffentlich nicht allzu große Sorgen um mich machen würden.

Am VP 18 Schönwalde gönnte ich mir zusätzlich zu meiner Standardverpflegung wieder zwei oder drei Stücke Wassermelone. Diese waren so köstlich, dass es einer Belohnung glich. Kein Wunder, dass ich hier fast vier Minuten vertrödelte, bevor es auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf einem sandigen Wiesenweg weiterging. Meine Mutter ließ sich dabei nicht davon abbringen, mich ein paar hundert Meter laufend zu begleiten. Dabei nutzten wir jede Sekunde, um uns über irgendwas zu unterhalten. Wer weiß, ob ich bei unserem nächsten Wiedersehen immer noch imstande wäre zu quatschen.

Vorbei am kleinen Laßzinssee ging es in östlicher Richtung durch den Forst Niederneuendorf. Die schattigen 3 km waren in einem Schnitt von 4:59 min/km möglich, bevor bei KM 120 die Überquerung der Niederneuendorfer Allee sowie ein kurzes Wiedersehen mit Sophie, Nicole und Tobi bevorstand. Hier verpflegte ich mich ganz kurz am Kofferraum unseres Autos, während die Drei mich mit einem selbstgemalten Plakat darauf aufmerksam machten, dass nur noch weniger als ein Marathon vor mir lag. Juhhuuu!

Eine weitere Sache, die mich ungemein motivierte, war die Tatsache, dass Sophie mich auf dem folgenden Stück mit dem Klapprad begleiten konnte. Während wir uns gemeinsam der Havel und dem idyllischen Uferweg Richtung Norden näherten, klärte Sophie mich über einige organisatorische Dinge auf.

Da ich keine offizielle – kostenpflichtige – Radbegleitung angemeldet hatte, war eine Begleitung durch Sophie ursprünglich nicht geplant gewesen. Zu groß war unsere Furcht vor einer möglichen Disqualifikation. Sophie hatte sich zwischenzeitig mit Nicole und Tobi abgestimmt und spontan entschieden, den Renndirektor anzurufen und freundlich um Erlaubnis zu bitten. Selbstverständlich durfte keine Verpflegung vom Rad aus sowie kein Vorausfahren zwecks Windschatten erfolgen. Wenn diese Regeln beachtet wurden, stand Sophies Vorhaben nichts im Wege. Zumal Spazierfahrten mit dem Rad für außenstehende Passanten auch durchweg erlaubt waren.

Ich freute mich riesig über meine Begleitung, wenngleich ich das sicher nicht mehr allzu gut zeigen konnte. Dass Sophie sich ebenfalls sehr darüber freute, ließ sie mich mehrmals wissen.

Außerdem erwischten wir einen wirklich traumhaft schönen Abschnitt über eine perfekt asphaltierte Promenade entlang der Havel und des Nieder Neuendorfer Sees. Links von uns hübsche Parkanlagen, Cafés und Spielplätze, während rechts von uns meist nur Wasser und diverse Wassersportler zu sehen waren. Auch hier kam man sich vor, wie an einem Urlaubsort, und ich hatte wieder nicht das Gefühl, durch Berlin zu laufen.

Abgesehen von einer anderthalb-minütigen Unterbrechung am VP 19 bei KM 123,3 kam ich mit Sophies Beistand und ein wenig guter Musik, die sie über ihre Bluetooth-Box abspielte, wieder an ein Durchschnittstempo von 5:03 min/km heran. Insgesamt spulten wir so 8 km ab, bevor im Ortsteil Hennigsdorf links des Oder-Havel-Kanals VP 20 erreicht war. Hier warteten auch wieder meine Eltern auf mich, womit ich nicht gerechnet hätte, denn dieser recht weit entfernte Streckenpunkt war ursprünglich nicht als Family-Treffpunkt auserkoren worden.

Ich freute mich über das erneute Wiedersehen – ja, mein Gesicht sagte mittlerweile was Anderes – und so gönnte ich mir eine fast vierminütige Pause am wiederholt reichhaltigen Verpflegungstisch.

Das Loslaufen nach jedem Stopp fiel nun immer schwerer, doch das Tempo ließ noch auf ein versöhnliches Ende hoffen. Die folgenden vier Kilometer wurden zwar sukzessive langsamer (KM 129 bis 132 in 5:08 min, 5:15 min, 5:20 min und 5:22 min), verliefen aber auch durch ein leicht welliges Waldgebiet nördlich des Tegeler Forsts.

Lange Geraden lagen vor uns, doch was ich plötzlich auf dem gut asphaltierten Weg entdeckte, ließ mich laut schmunzeln und die fiesen Höhenmeter schlagartig vergessen. Mit weißer Kreide oder einem Stein waren die Worte „Weiter, Pitwick“ und „Super, Patrick“ auf den rechten Wegesrand geschrieben. Da ich weiß, dass der erste Name nur familienintern genutzt wird, konnte das nur meine liebe Schwester Nicole gewesen sein.

Doch bis wir sie am Horizont entdeckten, verging noch ein knapper Kilometer. Wie ist sie bloß hierhin gekommen? Wahrscheinlich mit ihrem neuen Tretroller, war mein erster Gedanke.

Als VP 21 westlich des Ortsteils Frohnau erreicht war, begrüßten Nicole und Tobi mich mit einem selbst gemalten und sehr kreativen Schild: Froh now in Frohnau :-) Na wenn das nicht meine Laune anhebt, weiß ich auch nicht.

Die knapp anderthalb Minuten nutzte nicht nur ich für das Auftanken meiner Energietanks, sondern auch Sophie und Nicole für einen spontanen Radfahrerin-Wechsel. Beide freuten sich, denn während Sophie ihren Beinen und ihrem Po eine kurze Auszeit gönnen konnte, war Nicole ganz vorfreudig auf den nächsten Streckenabschnitt. Übrigens fand eine Verpflegung vom Fahrrad weiterhin nicht statt, sodass die nächste Cola-Wasser-Mische erst in gut 5 km auf mich wartete.

Natur und ein paar alte Siedlungen wechselten sich ab, während Nicole mich ein wenig unterhielt und meist hinter mir her radelte. In einem Schnitt von 5:14 min/km ging es für uns schnurstracks zum nördlichsten Punkt des Rundkurses, womit dann auch die vierte äußerste Himmelsrichtung abgehakt war. Tschakka! Von hier waren es nur noch 24 km bis zum Ziel bzw. nur noch fünf Verpflegungspunkte, was nach deutlich weniger klang.

Der fünftletzte VP befand sich schließlich bei KM 138,6 gleich neben einer imposanten Gedenkstätte an die Maueropfer. Für jede getötete Person war mitten im Wald ein alter Stuhl samt Namensschild aufgestellt. Und was soll ich sagen? Sobald ich dieses Bild beim Vorbeilaufen entdeckte, war es kurzzeitig sehr beklemmend und ruhig um mich herum. Diese Veranstaltung zeigte seine Wirkung und das war gut so!

Nach der nächsten Rechtsabbiegung folgte ein kurzer Abschnitt durch einen dunklen Wald, der mit dem Klapprad leider etwas schwer zu befahren war. Die arme Nicole erwischte mit ihren Vehikeln immer den unpassendsten Untergrund. Trotzdem strampelte sie tapfer weiter und verlor den Anschluss nicht, während ich die nächsten vier Kilometer mit durchschnittlich 5:01 min/km abspulte.

Mit Erreichen der Oranienburger Chaussee bei KM 141,5 wurde es auch wieder fahrradfreundlicher und wir fieberten dem nächsten Familientreffpunkt bei VP 23 entgegen. Hier sollte auch wieder ein Wechsel zwischen Nicole und Sophie erfolgen, was für mich die Sache sehr abwechslungsreich machte.

Weniger abwechslungsreich war hingegen meine Verpflegung, aber die Wahl auf Salzstangen, Cracker, Wassermelone, Apfel, Cola und Wasser schien bisher zumindest keine falsche gewesen zu sein. Allzu viel Hunger hatte ich nicht, aber die Energiezufuhr funktionierte und das war in diesem Moment das wichtigste.

Nach einer gut dreiminütigen Pause wurde ich von meinen Liebsten auf die letzten knapp 18 km entsendet. Zudem wurde mir mitgeteilt, dass der führende Spanier einen Vorsprung von fünf bis zehn Minuten hätte. Ich wusste nicht so recht, ob ich diese Info als Ansporn zur Aufholjagd nutzen oder lieber weiter auf Nummer Sicher setzen sollte. 18 Kilometer könnten erfahrungsgemäß noch recht lang werden, sodass ich mich für die zweite Option entschied und den inneren Motor nicht überstrapazierte.

Immerhin war nun Sophie wieder an meiner Seite und so wollte ich die kleinen Energiereserven lieber in kurze Dialoge stecken. Meine Redeanteile bestanden zwar hauptsächlich aus den Antworten „Ja“ und „Nein“ oder aus sehr kurzen Sätzen, aber es tat trotzdem gut, seit über zwei Stunden eine Gesprächspartnerin an der Seite zu haben.

Nach über vier Kilometern im 5:01 min/km Schnitt war VP 24 (bei KM 148,8) erreicht, wo uns eine weitere Überraschung erwartete. Sophies Schwester Lisa, ihr Mann Kai und deren kleiner Koa sind zur Strecke gekommen, um mich anzufeuern. Wir hatten beide nicht damit gerechnet und freuten uns sehr über das vier Minuten kurze Wiedersehen.

Das erneute Loslaufen war geprägt von einem kleinen Laufduell zwischen Koa und mir, das selbstverständlich der junge Newcomer für sich entscheiden konnte.

Auf dem nächsten gut 5 km langen Abschnitt ging es zunehmend Richtung Innenstadt, doch der Mauerweg war nach wie vor wunderbar zu belaufen. Lange asphaltierte oder gepflasterte Radwege führten durch Grünanlagen, die den Blick auf die Großstadt noch recht gut verwehrten. Trotz guter Ablenkung durch Sophie wurde es spürbar anstrengender (KM 149 bis 153 im 5:14 min/km Schnitt).

Nach einem gut zweiminütigen Stopp am VP 25 am Bahnhof Wilhelmsruh wurde es wuseliger und lauter. Von nun an würde es wieder mehr Straßenkreuzungen, mehr Passanten und mehr Lärm geben, sodass ich mich auf eine Art Intervallrennen einstellte. Nach KM 155 in 5:12 min und KM 156 in 4:51 min war mit VP 26 an der Wollankstraße der letzte Verpflegungspunkt erreicht. Hier sollten mir anderthalb Minuten Pause ausreichen, zumal ich die Zielverpflegung schon förmlich riechen konnte.

In euphorischen Gedanken versunken bog ich anschließend rechts ab und lief die Wollankstraße südwärts. Als ich einen weiteren weißen Pfeil mit Punkten vermisste, wurde ich stutzig und schaltete umgehend den GPS-Track auf meiner Uhr ein. Tatsächlich war ich 50 Meter zu weit gelaufen und musste umkehren, hatte jedoch Glück mit einer grünen Fußgängerampel, auf die ich ohnehin hätte warten müssen.

Auf der anderen Straßenseite ging es in die Steegerstraße rein und nach einem Linksschlenker unter mehreren Eisenbahnschienen hindurch. Den flotten KM 158 in 4:35 min spürte auch Sophie und anstelle mich zu bremsen, feuerte sie mich weiter an. Das war genau die richtige Reaktion, fand ich! So kurz vorm Ziel durfte ich meinen Beinen einen langen Zielsprint gewähren. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper, der Kloß im Hals wurde wieder etwas dicker, die Tränen kamen aber noch nicht. Weiter, Junge, gleich geschafft!

Bei KM 159 (in 4:49 min) ging es einen leichten Anstieg zum Schwedter Steg hinauf, wo links von mir ein Saxophonist spielte, rechts von mir die Sonne langsam unterging und weit vor mir der Fernsehturm in den Berliner Abendhimmel ragte. Diese Kulisse brannte sich in mein Gedächtnis ein und wird dort wohl nie wieder verschwinden.

Hinter mir strampelte Sophie auf dem kleinen Klapprad und rief mir ständig Anfeuerungsrufe hinterher. Gänsehaut kam auf. In dieser einmaligen Atmosphäre hätte ich noch gut zehn Kilometer weiterlaufen können, doch das Rennen würde gleich vorbei sein.

KM 160 in 4:30 min wurde schließlich mein viertschnellster Kilometer des Tages.

Da der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark unmittelbar vor uns lag, entschied sich Sophie vorzufahren. Zwar wartete im Zielbereich auch der Rest meiner Family, aber sie wollte dennoch beim Zieleinlauf dabei sein und im Vorfeld noch das Fahrrad wegstellen und abschließen.

Ich düste unterdessen im Schnitt von 4:30 min/km an unterschiedlichen Sportstätten vorbei und fieberte meiner langersehnten Stadionrunde entgegen. Einerseits lief es jetzt wieder richtig rund und ich hätte noch weiterlaufen können, andererseits freute ich mich auf den Feierabend mit meiner Speedy Family.

Sobald der südliche Eingang zur Tartanbahn erreicht war, winkte mir Nicole mit einem grünen Laufshirt zu. War das mein gelbes Speedy-Family-Shirt, mit dem ich über die Ziellinie laufen wollte? Nein, es war ein anderes, doch in diesem Moment konnte ich es nicht so recht erkennen. Während Nicole meine Kappe entgegennahm, griff ich zum grünen Shirt und streifte es mir während des Laufens über.

In einem Tempo von 3:45 min/km lief ich über die letzten 350 Meter meines 100. (Ultra-)Marathons. Ein Wahnsinnsgefühl! Im Stadion war es zwar nicht so stimmungsvoll und laut, wie ich es erwartet hätte, aber in mir brodelte es trotzdem. Sehr lange Zeit hatte ich mich nicht mit meiner Zielzeit beschäftigt, warum auch, doch beim Einbiegen auf die Zielgerade sah ich die große Digitaluhr. Es war exakt 20:14 Uhr und das bedeutete, ich würde mit einer Zeit von 14:14 Stunden ins Ziel einlaufen. Wow! Mit dem Wunsch, hier unter 16 Stunden zu bleiben, angereist und nun eine VIERZEHN vorne stehen haben – ich war sprachlos.

Jubelnd, Arme hochreißend und überglücklich überlief ich nach 14:14:07 Stunden die Ziellinie meines ersten 100-Meilen-Rennens! Um mir selbst zu beweisen, dass ich noch fit war, folgte dahinter noch ein Luftsprung. Geschafft, geschafft, geschafft!

Nachher

Im Zielbereich ließ man mich eine Minute verschnaufen, bevor der sympathische Moderator zum Interview ansetzte und mich zuerst fragte, warum ich weinte. Tolle Frage, warum wohl? 

Die Emotionen überkamen mich. Selten zuvor hatte ich einen so perfekten Wettkampftag erwischt, an dem einfach ALLES passte. Und da ich diesen perfekten 100. Marathon gemeinsam mit meiner Family verbringen durfte, sind mir meine Freudentränen zu verzeihen.

Nach dem kurzen Interview entdeckte ich den Tagesschnellsten Iván Penalba López auf mich zukommen. Wir umarmten und gratulierten uns gegenseitig, wenngleich noch nicht sicher feststand, wer von uns beiden als Sieger gewertet werden würde. Dazu gleich mehr.

Als nächstes erhielt ich mein wohlverdientes Finishershirt, das mit Sicherheit einen besonderen Platz in meiner Sammlung einnehmen wird.

Aufgrund der Corona-Regeln war es meinen mitgereisten Fans nicht gestattet, den Sportplatz zu betreten, sodass ich den Zielbereich zuerst verlassen und zur Bande rüber humpeln musste. Dort konnte ich endlich meine wichtigsten Gratulanten umarmen und ein paar weitere Freudentränen vergießen.

Wir waren alle baff darüber, wie reibungslos mein Rennen heute vonstattengegangen ist. Insbesondere erstaunte es uns, dass ich mit der Sonne und den 30°C so gut klargekommen bin, während viele Kontrahenten den heißen Bedingungen Tribut zollen mussten.

Ich hingegen nutzte fast jeden Verpflegungspunkt, um meine Reservetanks aufzufüllen. Das schien ausgereicht zu haben, um gleichmäßig über die Runde zu kommen. Erste Mangelerscheinungen zeigten sich bei mir erst nach dem Zieleinlauf, und zwar als knapp 15 Minuten nach dem Finish Schwindel und Kreislaufprobleme auftraten.

Mir wurde geraten, mich hinzulegen und die Beine hochzulegen, was wiederum zu Krämpfen in den Waden führte. Ein junger Sanitäter massierte mir währenddessen die Waden und riet zu Salztabletten und warmer Gyros-Suppe. Es war wichtig, dass ich meinen Salzhaushalt auffüllte. Da das logisch klang, folgten nach zwei Salztabletten ein paar Löffel Suppe.

Leider zeigte diese Art der Energiezufuhr bei mir keinen positiven Effekt. Im Gegenteil: Die leckere Gyros-Suppe wollte nicht drinbleiben und musste kurzerhand wieder hochbefördert und in einem großen Müllbeutel entsorgt werden. Die Aussage des jungen Sanitäters, mein Körper könne die hohe Salzkonzentration noch nicht aufnehmen und verarbeiten, klang abermals plausibel. Daher sollte ich in den nächsten ein-zwei Stunden wieder versuchen, was Festes zu mir zu nehmen. Schnell äußerte ich den Wunsch, heute noch einen Döner essen zu wollen. Na mal gucken, ob dieser drinbleiben wird.

Parallel zu all meinen Erschöpfungssymptomen ereignete sich noch eine weitere interessante Sache. Noch war nämlich nicht final geklärt, ob dem jungen Spanier nachträgliche eine Zeitstrafe drohte. Seine Radbegleitung ist etwa 10-15 Kilometer früher ins Rennen gestartet, als es offiziell erlaubt war, wodurch mein Kontrahent zwei Verpflegungspunkte auslassen und sich während des Laufs verpflegen lassen konnte.

Auch ich wurde in die gesamte Entscheidungsfindung involviert und so wurde ich nach meiner Einschätzung gefragt. Hat dem Spanier das frühere Einsetzen seiner Radbegleitung einen signifikanten Vorteil gebracht? Ich denke, eher nicht.

Der Racedirector dankte mir für meine ehrliche Bewertung und gewährte Iván kurze Zeit später den offiziellen Gesamtsieg. So war es fair und so soll’s nun sein, dachte ich mir. Zwar trennten uns im Ziel nur 7:26 Minuten und so hätte ich – ganz egal, wie hoch die Zeitstrafe ausgefallen wäre – den Sieg innehaben können, doch so richtig gefreut hätte mich das wohl nicht.

Eine weitere spannende Statistik hat mit meinen Stopps zu tun. Während meine offizielle Laufzeit 14:14:07 Stunden beträgt, war ich tatsächlich nur 13:25:16 Stunden laufend unterwegs (entspricht einem Tempo von 5:01 min/km). Die restlichen 48:51 min habe ich vor Verpflegungsständen und an roten Ampeln stehend verbracht.

Kaum vorzustellen, was in meinem Fall mit einer angemeldeten Radbegleitung möglich gewesen wäre. Doch diesen Fall möchte ich mir partout nicht ausmalen, denn so wie es gelaufen ist, ist es perfekt gewesen! Wer weiß, vielleicht waren die entspannten Pausen und die Gespräche mit den vielen Volontären auch der Schlüssel zum Erfolg. Immerhin geht der Puls in solchen Pausen runter, was auf den folgenden Abschnitten eine höhere Leistung zulässt. Man merkt, ich will mich nicht länger mit irgendwelchen potentiellen Szenarien beschäftigen, sondern den Moment genießen.

Irgendwann kurz nach 21 Uhr machten mich meine Liebsten darauf aufmerksam, dass es kühl wurde und alle gerne ihren wohlverdienten Feierabend einläuten würden. Noch bevor der Drittplatzierte eintraf, verabschiedeten wir uns von dem freundlichen Orga-Team und schlenderten zum Ausgang des Sportplatzes. Unterwegs entschieden meine Eltern, uns zum Abendessen einen Döner zu besorgen, während wir Kinder uns schon mal im nahegelegenen Hotelzimmer frisch machen durften.

Der Weg zur begehrten Dusche war extrem lang, aber mit tatkräftiger Unterstützung schaffte ich es irgendwann. Gegen 22 Uhr hatten wir schließlich alle unseren Döner in der Hand und konnten genüsslich reinbeißen. 

Sehr wahrscheinlich hing es mit meiner körperlichen Anstrengung zusammen, denn der Döner schmeckte anders, als ich es gewohnt war. Doch ich rief mir die mahnenden Worte des Sanitäters ins Gedächtnis und aß so viel ich konnte. Währenddessen fielen mir bereits die Augen zu und auch die Kraft in meinen Arm schwand zusehends.

Sobald ich mich wenig später ins Bett schleppte, ließen die anderen den Abend noch entspannt ausklingen. Meine Eltern verabschiedeten sich an meinem Bett von mir und freuten sich auf unser morgiges Wiedersehen auf dem Campingplatz.

Vom Rest des Abends und der Nacht weiß ich nichts mehr.

 

Am nächsten Morgen klingelte uns der Wecker um 10 Uhr wach, sodass wir noch eine Stunde bis zur Check-Out-Zeit hatten. Unsere Sachen waren schnell zusammengeräumt und dank meiner drei Helfer waren sie schneller wieder unten im Auto, als ich zwei Tage zuvor gebraucht hatte. Auf dem Weg zum Parkplatz begegnete mir übrigens noch Sascha, der gestern gesundheitlich zwar ordentlich zu kämpfen hatte, mit seinem fünften Platz und der Gesamtzeit von 15:59:50 Std. aber durchaus zufrieden war. Wir gratulierten und verabschiedeten uns, bevor es für uns Vier zur Frühstücksplanung überging.

Dieses sollte auswärts stattfinden, da wir uns offenhalten wollten, ob wir in Hotelnähe oder in der Nähe der Siegerehrung im H4 Hotel essen. Die Wahl fiel auf eine kleine Bäckerei unweit unseres Hotels, sodass ich nicht lange auf den Beinen bleiben musste. Neben Rührei, guten Brötchen und leckerem Aufschnitt freute ich mich insbesondere auf einen großen Milchkaffee. Herrlich!

Gut eine Stunde später sah unser Plan vor, dass Nicole und Tobi uns zwei in ihrem Auto mitnehmen und auf dem Seitenstreifen gegenüber des H4 Hotels am Alexanderplatz rauslassen. Dort erkundigten Sophie und ich uns nochmal nach der genauen Uhrzeit der Siegerehrung.

Um die Zeit bis 14 Uhr zu überbrücken, spazierten wir noch ein wenig umher und quatschten hier und da mit weiteren Finishern, die teilweise erst seit wenigen Stunden im Ziel waren. Auf dem Weg zum Alexanderplatz, wo ich Sophie unbedingt noch auf ein Eis einladen wollte, bemerkten wir, wie trostlos diese Gegend im Vergleich zum schönen Berliner Umland doch ist. Umso mehr schätzten wir die gestrige Veranstaltung wert.

Nach dem kurzen und recht langsamen Rundgang waren wir pünktlich zurück am Hotel, wo ich mich zunächst von Sophie verabschiedete. Die Ehrung der Einzelläufer sollte laut Ausschreibung nur Teilnehmenden vorbehalten sein.

Nach einem Abstecher aufs stille Örtchen schlenderte ich zu dem großen Saal, der für die Ehrung vorgesehen war. Am Eingang erblickte ich plötzlich Sophie und freute mich, dass sie auch hier die Erlaubnis erhalten hat, an meiner Seite sein zu dürfen. Mega cool!

Wir suchten uns zwei freie Stühle in der Mitte und hörten den Rednern auf der Bühne gespannt zu. Da 100 Meilen nicht mal eben so gelaufen werden, wurden alle 273 Sportler – mit den Damen beginnend – geehrt. Wir alle genossen den gegenseitigen Applaus und staunten nicht schlecht, dass Läufer auf die Bühne gebeten wurden, die soeben erst ins Ziel gelaufen waren. 23 Teilnehmer brauchten mehr als doppelt so lang wie ich und sahen teilweise dennoch weniger k.o. aus. Respekt!

Um 14:30 Uhr wurden schließlich die Gesamtschnellsten auf die Bühne gebeten und mit schönen Andenken ausgezeichnet. Neben einer Medaille und einer großen Gürtelschnalle für die Zielankunft unter 24 Stunden gab es einen Berliner Bären aus Keramik sowie ein großes Buch über die Berliner Mauer. Sobald Sophie und ich wieder im Freien waren, knipsten wir selbstverständlich ein weiteres Foto mit all meinen Errungenschaften.

Als nächstes spazierten wir zur nächstgelegenen U-Bahn-Station und fuhren das kurze Stück zurück zum Hotel Zarenhof, wo unser Auto auf uns wartete. Der offizielle Teil im Rahmen des Mauerweglaufs 2021 war nun Geschichte und wir widmeten uns dem letzten Tagespunkt. Sophie fuhr uns sicher aus der Millionenstadt heraus und so erreichten wir eine knappe Stunde später den Campingplatz Berlin-Kladow, wo meine Eltern und Nicole & Tobi auf uns warteten.

Wir berichteten von der Siegerehrung und ließen ein wenig die Seele baumeln. Heute zog es uns nirgends mehr hin und wir richteten uns im Auto unser Nachtlager ein. Nicole und Tobi hingegen mussten leider noch zurück nach Münster fahren, sodass wir uns zum frühen Abend von ihnen verabschieden mussten.

Auch am späten Abend wurden wir nicht mehr aktiver und so gab es lediglich noch ein entspanntes Camping-Abendessen, bevor Sophie und ich uns in unsere enge Schlafkoje verkrochen.

 

Am nächsten Morgen brachen meine Eltern zu ihrem Trip in die Sächsische Schweiz auf, während wir ausgeruht und ohne Stress den Heimweg antraten. Ich merkte früh, dass es klug war, diesen Montag frei zu nehmen, denn mein Kopf war auch am zweiten Tag nach dem Lauf noch ganz schön matschig.

Die vierstündige Fahrt diente perfekt dazu, dieses unglaubliche Wochenende Revue passieren zu lassen. Mein Schatz und ich waren uns einig, dass große Teile dieses Erlebnisses einfach unvergesslich bleiben werden.

Die Frage, ob ich 2022 erneut starten und West-Berlin in entgegengesetzter Richtung umrunden wolle (dafür gäbe es eine Sonder-Medaille), konnte ich ruhigen Gewissens mit „Nein“ beantworten. Man soll bekanntlich aufhören, wenn’s am schönsten ist. Außerdem möchte ich nicht das Risiko eingehen, dass meine schöne Mauerweglauf-Erfahrung durch einen zweiten, womöglich härteren Lauf getrübt wird.

Nächstes Jahr wird es sicher wieder neue, schöne Herausforderungen für mich geben!

 

Zahlen & Fakten

Distanz

 

Gelaufene Zeit (Netto)

 

Gelaufene Zeit (Brutto)

 

Altersklasse

 

AK-Platzierung

 

Platzierung (Männer)

 

Gesamtplatzierung

161,3 km

 

14:14:07 Std.

 

14:14:07 Std.

 

M30 (87-91)

 

2. von 8

 

2. von 220 (0,9 %)

 

2. von 273 (0,7 %)