3. Schweriner Seen-Trail

23.03.2019

Vorher

Am 01.03.2019 ergatterte ich mir für die Gebühr von 45 € den letzten von 150 Startplätzen für den begehrten Schweriner Seen-Trail. Ende März sollte die dritte Auflage stattfinden, die bereits jetzt Bestandteil des DUV-Cups war, einer Sonderwertung unter mehreren Ultraläufen in Deutschland. Doch was sind nun die Besonderheiten, die auch mich zu einer relativ spontanen Teilnahme motivierten?
Zunächst ist die Strecke zu nennen, die mit insgesamt 61 km Länge gegen den Uhrzeigersinn rund um den Schweriner Innen- und Außensee – den viertgrößten Binnensee Deutschlands – führt. Laut Ausschreibung wird vorwiegend ufernah auf Feld- und Waldwegen, teilweise aber auch auf Singletrails und nur gelegentlich über asphaltierte Straßen gelaufen. Hinzu kommen so einige Höhenmeter und Natur pur. Allein diese Argumente hätten schon ausgereicht, um mich zu überzeugen.
Darüber hinaus streben die Organisatoren dieses Lauf-Events an, den nachhaltigsten und umweltschonendsten Lauf überhaupt auf die Beine zu stellen. Der Verzicht auf Plastikbecher ist dabei nur einer von vielen Schritten in diese Richtung. Hierfür würde den Läufern bei der Startnummernausgabe ein Mehrweg-Faltbecher ausgehändigt werden. Ich durfte gespannt sein.
Außerdem sollte das Wegwerfen von Müll auf der Strecke geahndet und unter Umständen mit Disqualifikation bestraft werden. Und als Anreisemöglichkeit nach Schwerin wurden öffentliche Verkehrsmittel empfohlen. Jeder Teilnehmer war somit im Bilde darüber, dass hier nach 100 % Nachhaltigkeit gestrebt wird. Sehr löblich!
Während unserer Wochenendplanung entschieden meine Freundin Sophie und ich uns dazu, nach zwei Übernachtungen zu gucken. Schwerin als Hauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns hat sehr viel mehr als nur den großen See zu bieten. Allem voran sind es das Schweriner Schloss und der Schlossgarten, die wir am Samstagnachmittag nach dem Lauf oder Sonntagmorgen besichtigen möchten. Da wir am Sonntag dennoch ausschlafen wollten, fiel unsere Entscheidung zugunsten einer kleinen privaten Wohnung, die auf der Plattform Airbnb sehr gute Bewertungen hatte und mit einer Check-Out-Zeit von 14 Uhr sehr attraktiv war. Zudem war sie etwas günstiger (110,73 € für 2 Nächte), als die Alternative im Hotel, und wir konnten unsere ganz private Pasta-Party samt Marathon-Frühstück veranstalten.
Mit weniger als 1 km bis zur Altstadt und kaum mehr bis zum Veranstaltungsgelände war die Lage natürlich top. Wir freuten uns schon sehr auf diesen Kurztrip, zumal unsere letzte Städtetour schon recht lange zurücklag. So hatte nicht nur ich etwas, worauf ich mich freute, sondern Sophie ebenfalls.
Am Freitag, den 22.03.2019, machten wir uns gegen 16:30 Uhr auf den etwa 1,5-stündigen Weg von Hamburg nach Schwerin, wo ich gern noch bis 19 Uhr meine Startnummer abholen wollte. So würde dieser Stress am nächsten Morgen schon mal entfallen. Nach einer entspannten Autofahrt bei schönstem Sonnenschein kamen wir gut gelaunt in der Landeshauptstadt an und waren regelrecht sprachlos, als wir plötzlich das von der Abendsonne beleuchtete Schloss erblickten. Wow! Die Fahrt hierhin hat sich jetzt schon gelohnt, war unser erster Gedanke.
Nachdem wir einen Parkplatz gefunden hatten und für eine halbe Stunde ein Parkticket entwertet hatten, stapften wir zunächst in die Fußgängerzone zum Laufgeschäft Sport Schefe, wo draußen die Startnummern ausgehändigt wurden. Ich überreichte indessen den unterschriebenen Haftungsausschluss, der bei solch langen Distanz nicht selten verlangt wird. Neben der Startnummer gab es für mich auch einen Zeitmess-Leihchip und den faltbaren Trinkbecher, der während des Laufens mitgetragen werden muss.
Mit kurzem Boxenstopp auf der Kundentoilette des gegenüber liegenden Bäckers spazierten Sophie und ich noch schnell in Richtung des Schlosses, um zumindest ein Selfie zu knipsen.

Dann war es soweit, dass wir zum vereinbarten Zeitpunkt 19 Uhr zur Wohnung in die Bäckerstraße fuhren. Dort wartete bereits die Freundin der Wohnungsbesitzerin auf uns und übergab uns den Hausschlüssel. Wir riskierten es, den Parkplatz, den wir zuvor auf Anhieb gefunden hatten, zu behalten, ohne ein weiteres Parkticket zu ziehen. Ab 20 Uhr sollte das Parken ohnehin kostenfrei sein und am nächsten Morgen brauchten wir das Auto sehr früh morgens.
Als wir die Wohnung soweit erkundet hatten und uns lediglich über das sehr dunkle Licht im Wohnzimmer wunderten, breiteten wir unsere Sachen aus und machten uns an das Abendessen. Pünktlich zum Abendprogramm im TV war unser simples Pasta-Gericht fertig und wir konnten uns bei einem Gläschen Weißwein entspannen.

Anschließend ging es an die organisatorischen Dinge des Abends: die Planung des Laufes am Samstag. Unser Ziel war es nämlich, dass Sophie mich nicht nur im Start- und Zielbereich sieht, sondern auch auf der großen Runde begleitet. Im Vorfeld habe ich ihr Kilometerpunkt 22, KM 42,5 und KM 51,1 als mögliche Stellen rausgesucht, die sie recht bequem mit dem Auto anfahren konnte.
An den ersten beiden Stationen sollte es unter anderem zwei von insgesamt fünf Verpflegungsstationen geben, sodass ich hier voraussichtlich etwas länger Halt machen würde. Geplant war, dass ich an allen Getränkestation mindestens 30 bis 60 Sekunden Pause mache, um in Ruhe Durst und Hunger zu stillen. Nur so konnte ich den anstrengenden Lauf ohne allzu großer Probleme überstehen.
Außerdem wollten Sophie und ich uns so organisieren, dass sie mir meinen mit Wasser gefüllten Trinkrucksack erst bei KM 22 überreicht. Vorher brauchte ich diesen noch nicht und so konnte ich meinen Rücken und Nacken für ein Drittel der Strecke schonen.
Nach einigen weiteren Notizen fühlte auch Sophie sich gut vorbereitet und so machten wir uns zeitig ins Bett. Immerhin sollte der erste Wecker schon um 06:30 Uhr klingeln.
Und das tat er auch, erbarmungslos. Während ich schon ein paar Toasts im Backofen warm machte und uns einen Tee und Kaffee aufkochte, schlummerte Sophie noch etwas vor sich hin.
Gegen 07:30 Uhr machten wir uns auf den Weg und fuhren das Auto in die Nähe des Schlosses, wo eine Stunde später der „heiße“ Start erfolgen sollte. Von dort aus spazierten wir durch die Fußgängerzone zum wenige hundert Meter entfernten Pfaffenteich, in dessen Nähe sich das Basiscamp der Veranstaltung befand. Darunter verstand man eine urige, alte Sporthalle, in der nicht nur Duschen, Umkleiden und Verpflegung zu finden waren, sondern wo ab 08:00 Uhr eine obligatorische Wettkampfbesprechung stattfinden sollte.

Während dieser kurzen Pflichtveranstaltung wurden wir Läufer auf die kleinen Tücken und Gefahren der Strecke hingewiesen. Bei jeder neuen Information schauten Sophie und ich uns halb erschrocken halb amüsiert an. Unter anderem wurde von einem schmalen Brett berichtet, das etwa bei KM 15 einen Graben überspannt und maximal einen Läufer trägt (Überholen sei an dieser Stelle nicht erlaubt). Außerdem sollte es eine kurze Passage geben, die man nur mittels eines Seils meistern könne, das dort zum Festhalten gespannt worden sei. Ohjeohje! Die Streckenmarkierung besteht aus den diesjährigen roten Pfeilen und den letztjährigen blauen Pfeilen, jedoch sollten wir uns lieber an den roten orientieren. Zur Sicherheit seien noch ein paar bunte Bänder an etwas unsicheren Stellen befestigt, die uns weitere Orientierung bieten sollten. Eine weitere Besonderheit sei das Überqueren der Straße kurz vor KM 22, denn bei regem Verkehr sollte doch bitte ein kleiner Umweg zur nahegelegenen Fußgängerampel genommen werden. Auf diese Ampel wurde so lange hingewiesen, bis es im Läuferpublikum zum lauten Kichern kam.

Mit Sicherheit habe ich hier nicht all das aufgezählt, was uns in diesen 15 Minuten berichtet wurde. Alles in allem fühlte ich mich aber gut vorbereitet, jedoch wurde ich durch dieses Briefing auch spürbar aufgeregter. Noch nie habe ich an solch einem Ultra-Trail teilgenommen. Und schon lange war ich nicht mehr so aufgeregt wie heute. Es handelte sich um einen großen 1-Runden-Kurs, bei dem es nach der Hälfte nur noch eine Wahl gab: das Ding zu Ende laufen (denn Umkehren wäre genauso lang) oder sich abholen lassen.
Ein wenig mehr Sicherheit bot mir mein Handy, das ich von nun an mit eingeschaltetem Live-Standort bei mir trug. So konnte nicht nur Sophie sehen, wo ich mich befand, sondern auch meine Family, die von zu Hause mitfieberte.
Um 08:15 Uhr machte sich die Läuferschar langsam auf den Weg nach draußen zum südlichen Ufer des Pfaffenteichs, wo später der Zieleinlauf stattfinden sollte. Dort sollte nun der „kalte“ Start erfolgen, das heißt dass die 800 Meter bis zum Schloss gemeinsam getrabt wurden. Da Sophie mit Tasche und dicker Jacke bestückt nicht so leicht mitjoggen konnte, machten wir zwei uns einfach schon etwas eher auf den Weg.
Um 08:20 Uhr holte uns die Läufergruppe langsam ein und so versammelten wir uns alle gemeinsam pünktlich vor dem imposanten Schloss.

Hier wurden natürlich unzählige Fotos geknipst, so auch ein offizielles Gruppenfoto, auf dem ich leider in zweiter Reihe stand. Dabei wollte ich doch so gern mein neues gestreiftes Retro-Laufshirt präsentieren.
Wenige Minuten vor dem „heißen“ Start um 08:30 Uhr zog ich meinen Trainingsanzug aus und war wettkampfbereit. Bei bewölktem Himmel, Windstille und 8-10°C herrschten zwar absolute Traumbedingungen für uns Läufer, jedoch hätte ich gern mehr vom See gesehen, über dem noch dichter Nebel lag. Dieser verlieh der Umgebung eine etwas unheimliche Atmosphäre. Sehr passend zu unserem Vorhaben!

Von Sophie habe ich mich noch rechtzeitig verabschieden können. Wir wünschten uns gegenseitig viel Spaß und freuten uns auf die vereinbarten Treffpunkte. Nun durfte es gleich losgehen.
Als das Gruppenfoto im Kasten war und der Bürgermeister Schwerins ein paar letzte Worte losgeworden ist, drehten sich auf einmal alle Läufer um die eigene Achse. Plötzlich stand ich im hinteren Bereich des Teilnehmerfeldes, denn gestartet wurde in Richtung des Schlossgartens, der hinter dem Schloss lag.
Schnell wuselte ich mich nach vorne und auch Sophie huschte auf dem Gehweg an einigen Menschen vorbei, um noch rechtzeitig ein Startfoto von mir zu schießen.

Plötzlich wurde ein kurzer Countdown angestimmt und schon ging es los. Ich startete zu meinem bisher drittlängsten Wettlauf (nach dem 6- und 24-Stunden-Rennen).

Der Lauf

Da es noch so früh am Morgen war, schauten neben zwei-drei Hundebesitzern nur noch ein paar Enten etwas verblüfft, als wir in einer langen Menschenschlange durch den verschlafenen Schlosspark liefen.

Nun ging die lange Reise um den viertgrößten See Deutschlands los. Noch konnte ich nicht ganz glauben, was ich mir dabei gedacht hatte, aber wenn ich diesen Plan vorsichtig angehen würde, sollte es klappen. Aufgrund meines spärlichen Trainings in diesem Jahr nahm ich mir keine allzu ambitionierte Zielzeit vor. Schön wäre es natürlich, wenn ich die Umrundung in weniger als 5 Stunden schaffen würde, aber falls es nicht klappt, ist das gar kein Problem.
Auf den ersten Metern ordnete ich mich gleich mal in der „hängenden Spitze“ ein, das heißt dass ich nicht vorneweg gelaufen bin. Ich reihte mich somit irgendwo an Position 5 ein und versuchte, ein entspanntes Tempo anzugehen, was mir auf den ersten 2 km entlang des Franzosenwegs gut gelungen ist (in 04:58 min und 04:48 min). Plötzlich leitete uns ein Pfeil nicht weiter geradeaus, sondern rechts ab in ein hügeliges Waldstück, das parallel zum Franzosenweg verlief. Es ging auf und ab und sollte uns einen kleinen Vorgeschmack auf das erste Drittel des Rennens geben (KM 3 in 04:47 min). Während die ersten drei starken Läufer meine kleine Truppe und mich abgehängt hatten, waren wir fortan mit dem Finden des Weges auf uns allein gestellt. Das sollte uns später noch zum Verhängnis werden.

Doch bis KM 9 verlief alles reibungslos und wir liefen bald wieder auf ufernahen, kurvenreichen Asphaltwegen. Der Tag erwachte und mancherorts erschienen die ersten Fußgänger, die uns meist nur kurzen Applaus spendierten. Hinzu kamen zwei kleine Jungen, die auf ihren Fahrrädern vorfuhren und mit roter Sprayfarbe Streckenpfeile auf den Boden malten. Wir überholten uns ständig gegenseitig, sodass wir das eine Mal sogar noch durch den frischen roten Spraynebel hindurchliefen (KM 4 bis 6 in durchschnittlich 04:44 min/km).
Diese Überholmanöver motivierte uns zu einer leichten Tempoverschärfung (KM 7 bis 9 in durchschn. 04:26 min/km), sodass wir beim besagten KM 9 einem roten Pfeil an einem Baum gefolgt sind. Die beiden Jungen hatten wir kurz zuvor erneut überholt. Da die Linksabbiegung aber nicht für uns gemeint war, landeten wir zu dritt in einer Sackgasse nahe des Ufers. Bevor wir unser Versehen bemerkten, huschten zwei Läufer an uns vorbei, deren Verfolgung wir sogleich wieder in Angriff nahmen. Na sowas, zum Glück ist das gerade noch gut gegangen!
Bei KM 10 (in 04:34 min) ging es kurz durch das Örtchen Raben Steinfeld, vorbei an der ersten Verpflegungsstelle, wo ich mir meinen Becher mit Wasser auffüllen ließ, und von da an links des Schweriner Sees Richtung Norden.

Eine weitere „Attraktion“ erwartete uns bei KM 12 (in 04:53 min), als wir über eine fast menschenleere Strandpromenade liefen und rechts von uns ein großes, verlassenes Gebäude mit zerbrochenen Fenstern passierten. Es ähnelte einer Jahrzehnte lang vernachlässigten Geistervilla aus einem mittelguten amerikanischen Film.

Der nächste Abschnitt bis ins Örtchen Leezen war der erste mit durchgehenden Singletrail-Pfaden. Hier hatten wir keinen Platz mehr, um nebeneinander zu laufen, sodass sich unsere netten Gespräche leider auch reduzierten. Aber so konnte ich die Zeit nutzen, um mich wieder etwas mehr auf meinen Körper zu konzentrieren.
Nicht selten mussten quer liegende Baumstämme übersprungen oder enge Ausweichmanöver genommen werden, wodurch der Rhythmus ein wenig gestört wurde. Doch noch waren die Beine frisch und so konnte ich gemeinsam mit meinen Kollegen weiterhin flotte Kilometer laufen (KM 13 in 04:40 min und KM 14 in 04:38 min).
Erst wenig später wurde es im Wald richtig abenteuerlich. Etwa bei KM 15 erwartete uns eine so schräge Neigung des Laufweges, dass man hätte abrutschten und in den 3 Meter tiefer gelegenen See plumpsen können. Um das zu verhindern, war rechts oberhalb des Weges das erwähnte dicke Seil gespannt, an dem man sich möglichst festhalten sollte. Darauf wurde schon während der morgendlichen Rennbesprechung hingewiesen.
Im Übrigen war dieser Abschnitt so unwegsam, dass hier keine Radbegleitung zugelassen war. Diese durfte erst wieder bei KM 19 zu den Läufern dazu stoßen. Kurze Zeit später stand uns das nächste Highlight bevor: ein schmales Brett, dass über einen kleinen Graben gelegt war. Auch hier war Vorsicht geboten und das Betreten zu zweit geschweige denn Überholen verboten.

Ich nahm diesen abenteuerlichen Abschnitt zum Anlass, etwas auf die Bremse zu drücken (KM 16 in 05:18 min und KM 17 in 05:13 min). Meine direkten Verfolger schienen trotzdem abgehängt und zudem konnte ich einen der starken Läufer einholen und sogar hinter mir lassen. Das wunderte mich etwas, sollte aber noch rein gar nichts bedeuten. Das Rennen war noch lang und bekanntlich heißt es: ‚Hinten ist die Ente fett!‘.
Als derzeit Drittplatzierter machte ich mich weiter durch den Wald und genoss die schmalen Pfade. Kurz nach KM 18 (in 04:54 min) ging es erstmals seit Langem wieder auf Asphalt weiter und schließlich einen langen Anstieg hinauf. Oben auf 66 m üNN angekommen informierte uns eine kleine Infotafel darüber, dass hiermit der höchste Punkt des gesamten Kurses erreicht war. Dass es noch zwei weitere Gipfel von 65 m Höhe gibt, ahnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Die folgenden gut 2 km verliefen über einen Radweg neben einer breiten Straße und führten uns schnurstracks zum zweiten Verpflegungspunkt. Auf diesem Stück überholte mich der schnelle Mann wieder, sodass ich auf den vierten Rang zurückfiel. Das war völlig in Ordnung und richtig so, denn ich wollte mich nicht mitreißen lassen.
Bei KM 21 (in 04:43 min) erreichte ich Rampe, das Örtchen mit der berüchtigten Fußgängerampel, die es zu nutzen galt. Da das Glück mit mir war, haben die beiden Streckenposten signalisiert, ich könne die Straße direkt queren, wenn ich mich etwas beeilen würde. Beeilen? Was sollte das denn heißen? Ich nahm es als kleinen Scherz auf, beschleunigte kaum spürbar und kreuzte die Straße ampellos.
Dann bog ich links ab, befand mich auf einem gepflasterten Fußweg und fieberte dem Wiedersehen mit Sophie entgegen.

Als es leicht bergab ging, entdeckte ich hinter der kleinen Rechtskurve eine Zeitmessmatte. Für mich wurden 01:43:20 Std. gestoppt, womit ich nur 01:13 min Rückstand auf die Spitze hatte und wie gesagt derzeit Vierter war.
Am Verpflegungstisch wartete bereits Sophie auf mich, der ich schnell mitteilte, dass es gut lief und dennoch recht anstrengend sei. Sie sollte die ganze Wahrheit wissen. Dann erhielt sie einen schnellen Kuss von mir, überreichte mir im Gegenzug meinen Trinkrucksack und verabschiedet sich auch schon. Ich wollte weiter und den neuen Viertplatzierten verfolgen, der während meiner knapp 30-sekündigen Pause vorbeigehuscht ist. Eine kleine Stärkung in Form einer halben Banane nahm ich mir für unterwegs mit.

Als ich mich an das neue Gefühl am Rücken und das regelmäßige Schwappen des Wassers gewöhnt hatte, musste ich mit der neuen Streckenbeschaffenheit zurechtkommen. Nach viel Abwechslung im Wald folgten nun sehr lange asphaltierte Geraden, die an Sträuchern und Wiesen vorbeiführten. Die Sicht auf den See war teilweise eingeschränkt und die Halbzeit immer noch nicht erreicht. Zudem wurde der Abstand zu dem Enteilten nicht kleiner, sondern größer, und das obwohl ich nichts an Tempo verloren hatte (KM 23 bis 27 in durchschn. 04:45 min/km).
Doch die Geschwindigkeit würde ich nicht mehr allzu lang halten können. Bereits die folgenden 4 km lagen im Schnitt bei 04:56 min/km und hatten zufolge, dass mich der Sechste in seinen Barfußschuhen überholte und damit auf den sechsten Platz verwies. Da musste legales Doping her und so griff ich zum ersten von zwei Energiegels, die mich mit wertvollen Kohlenhydraten versorgen sollten. Dank des Trinkrucksacks konnte ich das klebrige Gel schnell runterspülen.

© Frank Leonhard
© Frank Leonhard

Bei KM 31 (in 04:59 min) befand ich mich verhältnismäßig weit vom See entfernt und steuerte auf einen Campingplatz zu, den es zu überqueren galt. Das war endlich wieder positive Abwechslung, bevor kurz vor KM 33 (in 05:11 min) ein weiterer kurzer Stopp eingelegt wurde. Die dritte Verpflegungsstelle lockte hier mit warmem Zitronentee, von dem ich mir gleich mal zwei Becher gönnte. Dabei unterhielt ich mich kurz mit den beiden Läufern, die im Ranking vor mir lagen. Beide signalisierten, dass sie es von nun an etwas ruhiger angehen lassen wollten. Und schwupp – lag ich plötzlich wieder auf Platz 4 mit weiterhin gehörigem Abstand zum Dritten.

Mit entspanntem Rhythmus steuerte ich zwischen dem Schweriner See und dem Teich namens Döpe auf den nördlichsten Zipfel der Strecke zu (KM 34 in 04:55 min und KM 35 in 05:03 min). Hier erreichte man mit dem Ort Hohen Viecheln wieder ein Fleckchen Zivilisation. Und der Name war Programm: es wurde richtig schön hügelig (KM 36 in 05:19 min).
Nach einer Unterführung der Eisenbahnschienen und einigen Metern entlang rot-weißer, skandinavischer Häuschen folgten die Querung einer Wiese mit einem Spielplatz und weitere enge Gassen. Es wurde also wieder abwechslungsreicher und ich freute mich zu diesem Zeitpunkt bereits auf das zweite Wiedersehen mit Sophie kurz hinter der Marathon-Marke.
Und so überlegte ich mir bereits, ob ich etwas aus meiner großen Sporttasche brauchte, die Sophie mit zum Treffpunkt bringen würde. In der Tat brannten mir meine beiden Fußsohlen, sodass ich plante, meine Socken zu wechseln. Auf ein-zwei Minuten Zeitverlust dürfte es nicht ankommen und knapp ein Drittel mit schmerzenden Füßen wäre mir definitiv zu viel geworden.
Die folgenden 6 km gestalteten sich ganz schön schwierig. Obwohl es verhältnismäßig flach zuging variierte mein Tempo ordentlich (zwischen 04:46 und 05:24 min/km) und das ohne jeglicher Gehpausen. Natürlich versuchte ich, dies auszublenden, und genoss weiterhin die schöne Umgebung.

Besonders charmant war für mich folgende Situation: Als ich bei KM 40 etwas oberhalb der Seeufers an einer Häuserreihe entlang gelaufen bin, öffnete am letzten Haus eine ältere Dame das große Gartentor. In diesem Moment grüßte ich mit einem „Hallo!“ und sie mit einem ebenso kurzen „Morgen!“ zurück. Dieses eine Wörtchen erzeugte in mir einen kleinen Motivationsschub, denn es schien noch Morgen zu sein, obwohl ich schon zwei Drittel des Laufs hinter mir hatte. Ich schaute nicht auf die Uhr, vermutete aber, dass es noch vor 12 Uhr mittags sein musste. Na dann sollte nach Ende des Laufs noch genug vom Tag übrig sein, dachte ich mir.
Etwas ermüdet kam ich am Örtchen Bad Kleinen vorbei und passierte die Marathon-Marke nach ungefähr 03:25 Stunden, womit ich recht zufrieden war. Am vierten Verpflegungsstand stand wieder ein großer Tisch mit unterschiedlichsten Dingen zu Essen und Trinken bereit, wohingegen mein Interesse zunächst der leeren Bank diente. Auf diese setzte ich mich nieder und zog schnell meine Schuhe aus.
Sophie, die es auch hier pünktlich zum Treffpunkt geschafft hat, sollte mir das Döschen Vaseline und ein neues Paar Socken reichen. Leider waren keine frischen Socken in der großen Tasche auffindbar, sodass ich es bei den alten Socken und einer frischen Portion Vaseline beließ. Ich schlüpfte zurück in meine Laufschuhe und ging rüber zum Getränketisch, wo ich mir wieder Zitronentee gönnte. Für den Weg nahm ich diesmal Salzstangen mit und verabschiedete mich schließlich von Sophie, die ich in knapp 9 km wiedersehen würde. In der Zwischenzeit ist der Fünftplatzierte zur Verpflegungsstation hinzugestoßen, der mir somit dicht auf den Fersen war.
Aufgrund der etwa 3-minütigen Pause war KM 43 der bisher langsamste des Tages (in 08:11 min) und was ich noch nicht wusste: es sollte auch der langsamste insgesamt bleiben.

Der folgende Abschnitt – u.a. am Schloss Wiligrad und dem Örtchen Lübstorf vorbei – war geprägt von schwierigen Waldwegen. Viel Laub und matschige Pfützen, große Wurzeln und umgefallene Bäume bildeten zum Teil ganz schön knifflige Hindernisse. Nicht selten musste ich irgendwo hochkraxeln oder mich tief bücken und all das mit ziemlich müden Beinen. Von schnellem Laufen konnte fortan nicht mehr die Rede sein und so lief ich zwischen KM 44 und KM 50 ein durchschnittliches Tempo von 05:48 min/km (zwischen 05:32 und 06:04 min/km).

Bevor der Touristenort Seehof erreicht war, musste ich über einen weiteren Campingplatz laufen. Noch immer war ich der Viertplatzierte des Rennens und wusste, dass es hinten raus hart werden würde. Mal schauen, wie viele erfahrene Ultramarathonis mich noch einholen werden, aber Top-10 sollte locker machbar sein. Zur Unterstützung meiner Ambitionen nahm ich das zweite Energiegel zu mir und spülte es mit ordentlich Wasser runter. Los geht’s, nur noch 10 km!
In der Nähe der Camping-Rezeption entdeckte ich dann Sophie, die auf mich wartete. In dem Moment unseres Zusammentreffens passierte es dann, dass ich überholt wurde und von nun an auf dem fünften Rang lag. Ein paar motivierende Worte meines Konkurrenten verleiteten mich lediglich dazu, nicht länger stehen zu bleiben, sondern weiterzugehen. Die Gehpause nutzte ich dazu, mich ein wenig mit Sophie zu unterhalten. Auf meine Frage, wie ich denn aussehe, antwortete sie nur „Kontrolliert k.o.!“ Damit konnte ich leben.

Nach KM 51 (in 07:12 min), die zu 300 Meter aus Fußmarsch bestanden, trabte ich locker weiter und visierte die fünfte und letzte Getränkestation kurz hinter KM 53 an. An diesem Punkt kamen die Ultramarathonis mit den 33-km-Läufern zusammen, die erst um 10:30 Uhr gestartet waren. Von nun an wurde es auf der Strecke wieder etwas voller und die restlichen 8 km wurden gemeinsam absolviert.
An der besagten Getränkestation gab es ein letztes Mal eine kurze Pause und warmen Zitronentee für mich. Das führte dazu, dass KM 54 wieder etwas langsamer wurde (in 06:32 min). Die aufgefüllten Energietanks wollte ich nun bestmöglich nutzen und die vielen, kleinen Hügel, die vor uns lagen, tapfer meistern. Manches Mal musste ein sehr steiler Pfad bezwungen oder eine große grüne Wiese mit unzähligen Löchern überquert werden. Etwas später folgten ein paar hundert Meter über einen Acker oder ein verwinkelter Weg durch einige Schrebergärten.
Der Kreativität der Organisatoren waren keine Grenzen gesetzt und sie schienen sich bei der Streckenplanung richtig ausgelebt zu haben.
Die letzten 7 km verliefen nicht mehr in unmittelbarer Nähe zum Schweriner See, sondern entlang des danebengelegenen Ziegelsees. Über gut ausgebaute Spazierwege konnte ich noch vereinzelte 33-km-Läufer überholen und hoffte nur inständig, dass mich kein weiterer 61-km-Läufer überholt. Position 5 hätte ich sehr gern bis ins Ziel behalten.

© David Ziegler
© David Ziegler

Mit jedem weiteren Kilometer wurde es nun immer städtischer und es fing wieder zu kribbeln an. Gleich durfte ich mich erneut Ultramarathoni nennen und mich endlich irgendwo hinsetzen und entspannen.
Südlich des Ziegelsees stand uns eine letzte große Straßenkreuzung bevor, ehe das Nordufer des Pfaffenteichs erreicht war. Doch leider gab es auch hier eine Fußgängerampel, die Rot zeigte und an der bereits zwei Läufer warteten. Ich gesellte mich zu ihnen und wartete nervös auf das grüne Signal. Bevor die Ampel umsprang, überholte uns ein schneller Läufer, den ich anhand seiner Startnummern-Farbe schnell als 61-km-Teilnehmer identifizieren konnte. Na sowas?! Ist das fair?
Ich war ganz schön angestachelt und konnte das Ende der Rot-Phase kaum erwarten. Eine Sekunde, bevor es Grün wurde, betrat ich schon die Straße und sprintete hinterher. Es waren nur noch wenige hundert Meter bis ins Ziel und ich wollte mir den fünften Platz nicht auf diese Weise wegnehmen lassen.

Nach knapp 400 Metern war ich wieder am Rücken meines Konkurrenten dran. Gemeinsam liefen wir Slalom durch die restlichen Passanten. Mit einem Tempo im Bereich von 05:00 min/km, das sich natürlich wesentlich schneller anfühlte, rasten wir auf das Südufer des Pfaffenteichs zu, wo bereits das Zielbanner zu sehen war.

In der letzten Linkskurve knapp 100 Meter vorm Ziel entschied ich mich für die Außenkurve. Innen war aufgrund einiger Spaziergänger kein Platz. Also mit großen Schritten außen rum und so merkte ich schnell, dass mein Konkurrent ebenfalls angestachelt war. Auch er zog sein Tempo an, doch die Gegenwehr schien von kurzer Dauer.

Während ich im Vollsprint auf die Ziellinie zu rannte, entstand eine Lücke von vier Sekunden zwischen uns. Im Ziel überwog dann nur noch die Erleichterung. Welche Pose ich eingenommen hatte, welche Zielzeit ich gelaufen bin, wo Sophie zu dieser Zeit stand, … keine Ahnung! Ich war einfach nur platt und überglücklich!

Nachher

Hinter der Ziellinie fiel mir zunächst Sophie in die Arme und beglückwünschte mich. „Wahnsinn, hattest du einen Sprint drauf!“ rief sie voller Euphorie. Auch ich war noch völlig überwältigt.
Während mir der Zeitmess-Chip vom Fuß entfernt wurde, erhielt ich eine schöne hölzerne Medaille umgehängt. Natürlich musste sofort ein stolzes Zielfoto geknipst werden.

Wenige Augenblicke später holte ich mein Handy aus der Gürteltasche und wir quatschten eine Sprachnachricht für meine Family drauf. So wussten auch sie schnell aus erster Hand, dass es mir gut ging und ich gesund und glücklich nach 05:10:24 Stunden im Ziel angekommen war.
Danach machten Sophie und ich uns auf den Weg zum Auto, mit dem wir zurück zu unserer Airbnb-Wohnung fuhren. Dort wollte ich mich in Ruhe heiß duschen, bevor der Muskelkater die ganzen Beine durchzogen hat.
Nach einer gut einstündigen Pause machten wir uns gegen 15:30 Uhr wieder auf den Weg zurück zum Veranstaltungsgelände, dem sogenannten Basiscamp, wo ab 16 Uhr die Siegerehrung stattfinden sollte. Im Vorfeld lösten wir noch meine drei Verzehr-Gutscheine ein, die ich zusammen mit meiner Startnummer erhalten hatte.
Neben einem neuen Bio-Biermischgetränk und einer Kürbissuppe gab es zwei belegte Brötchenhälften und ein Stück Apfelkuchen. Davon konnten wir selbst zu zweit satt werden.

So überbrückten wir die kurze Dauer bis zur Ehrung, bei der ich als Altersklassen-Erstplatzierter zwischen einem Brot-Beutel und einem Müsli-Paket entscheiden durfte. Meine Wahl fiel zugunsten des Jutebeutels samt Brot, Bio-Aufbackbrötchen und Dinkelkeksen.

Als wir unsere Sachen zusammengeräumt hatten und aufbrechen wollten, wurden wir von einer Organisatorin angesprochen und gefragt, ob wir noch eine kostenlose Brötchenhälfte mit Aufschnitt mitnehmen wollten. Auch hier kam der Nachhaltigkeitsgedanke deutlich hervor, denn weggeworfen wurde scheinbar nichts.
Mit einem Wurstbrötchen auf der Hand spazierten wir zurück zum Auto, das wir kurzerhand umparken mussten. Von da an verbrachten wir die restlichen drei Stunden bis zur Ladenschließungszeit in der Innenstadt. Allzu große Shopping-Erfolge konnten wir zwar nicht verzeichnen, aber das Bummeln hat Spaß gemacht.
Nach 20 Uhr suchten wir im Internet nach einem geeigneten Lokal für unser Abendessen und wurden auf einen Kroaten aufmerksam. Auf dem Weg dorthin passierten wir ein kleines Restaurant, das sich auf Kartoffelspeisen spezialisiert hat: das Kartoffelhaus Schwerin. Schnell waren wir uns einig, dass wir dieses bevorzugen würden, wenn uns der Kroate nicht gefiel. Und so kam es dann auch.
Wir gönnten uns Bratkartoffeln und Kartoffelrösties, dazu leckeres Fleisch, Rotkohl und Bier. So durfte ein sportlicher Tag gern enden.

Am nächsten Tag ließen wir es ganz entspannt angehen, backten die gewonnenen Bio-Brötchen auf, frühstückten verbotenerweise im Wohnzimmer vorm Fernseher und verließen die Wohnung erst um 14 Uhr. Mit nur 1,5 Stunden, die uns in Schwerin noch zur Verfügung standen, fuhren wir in Richtung des schönen Schweriner Schlosses. Unser Ziel war der Schlossgarten und ein paar schöne Fotoaufnahmen bei bestem Sonnenschein.

Kurz vor 16 Uhr machten wir uns auf den Weg zurück nach Hamburg, wo uns am heutigen Abend eine weitere Besonderheit erwartete: der erste Orchesterbesuch im großen Saal der Elbphilharmonie. Hierfür hatte ich wenige Tage zuvor Tickets im Wert von 6 € pro Person ergattert. Es handelte sich einerseits um Spartickets für junge Leute unter 30 Jahren und Sitzplätze in der obersten Reihe, andererseits sollte das Schnupper-Konzert nur maximal eine Stunde dauern.
So konnten wir günstig testen, ob ein Elphi-Besuch auch für uns zwei eine Attraktion ist. Und was sollen wir sagen? Es war ein atemberaubendes Ereignis! Wir waren selten so überrascht und sprachlos und können jedem nur wärmstens empfehlen, hier ein Konzert zu besuchen.

Zahlen & Fakten

Distanz

 

Gelaufene Zeit (Netto)

 

Gelaufene Zeit (Brutto)

 

Altersklasse

 

AK-Platzierung

 

Platzierung (Männer)

 

Gesamtplatzierung

61 km

 

05:10:24 Std.

 

05:10:24 Std.

 

Männl. Hauptklasse (90-99)

 

1. von 8

 

5. von 105 (4,8 %)

 

5. von 128 (3,9 %)