3. Wings for Life World Run Zadar (Croatia)

08.05.2016

Vorgeschichte

So sehr ich diesen "globalen Wettkampf" 2014 überhört und überlesen habe, so sehr begeisterte mich die Idee im Jahr 2015! … so sehr, dass ich mir schon bald sicher war, bei diesem Lauf an den Start gehen zu wollen.
Auf allen Kontinenten der Welt liefen am 03.05.2015 insgesamt 73.360 Läufer (über 100.000 Voranmelder) in 35 verschiedenen Städten zeitgleich los und wurden 30 Minuten später von sogenannten "Catcher Cars" verfolgt. Diese fahren zu Beginn 15 km/h und steigern ihr Tempo stündlich auf 16, 17, 20 und 35 km/h bis alle Läufer nacheinander überholt worden sind. Sobald man von dem Auto überholt wird, ist man aus dem Rennen. Und sobald weltweit der letzte Läufer eingeholt wird, ist der Wettbewerb beendet. So einfach das Konzept :-) Und das womöglich Beste daran ist, dass die Startgelder und jegliche Spenden zu 100% in die Rückenmarkforschung fließen. Das Event finanziert sich ausschließlich durch so große Sponsoren wie Red Bull, Puma und Garmin.
Bereits zum zweiten Mal nach 2014 siegte 2015 auf globaler Ebene der Äthiopier Lemawork Ketema mit einer Leistung von 79,9 km. Bester Deutscher wurde 2015 Florian Neuschwander in Darmstadt (74,5 km). Um auf der Strecke einen Marathon zu schaffen, darf man sich nicht mehr als 03:08 Stunden Zeit lassen. Für 50 km stehen 03:36 Stunden zur Verfügung. Mein persönliches Ziel läge sehr wahrscheinlich um die 50-km-Marke herum, was einem Ultramarathon entspricht (~ 04:19 min/km). 

Nachdem ich Anfang des Jahres ein paar kürzere Distanzen in Angriff nehmen wollte, sollte der Wings for Life World Run am 8. Mai 2016 das Highlight des 1. Halbjahres werden. Aber anstelle eines Starts in Deutschland (München), entschieden sich meine Freundin Sophie und ich uns dafür, für diesen Lauf und einen anschließenden Kurzurlaub nach Zadar in Kroatien zu reisen.
Unser Plan sah vor, dass am Tag nach der Anreise erst der Lauf und dann vier Tage Erholung folgen sollten. Wir freuten uns riesig, nachdem erst die Flüge am 29.12.2015 und dann auch die Startnummern am 09.01.2016 gebucht waren. Ein nachträgliches Weihnachtsgeschenk sozusagen …

Während der Hin- und Rückflug von Düsseldorf-Weeze nach Zadar 60,16 € pro Person kostete, betrug die Startgebühr umgerechnet nur 13,22 € pro Person – natürlich unabhängig von der zurückgelegten Distanz. In den Folgemonaten recherchierten wir daraufhin nach günstigen, aber dennoch guten Unterkünften in dem kleinen Städtchen am Mittelmeer. Unser wichtigstes Kriterium lag in der Nähe zum Meer und dem Startgelände des Wings for Life World Runs, da wir meist zu Fuß unterwegs sein wollten. Während wir zwischenzeitlich bis zu 3 Unterkünfte gleichzeitig gebucht hatten, fiel unsere Wahl Ende April auf das Guest House Elegance inmitten der Altstadt Zadars. Die beiden anderen, etwas günstigeren aber weiter entfernten Alternativen ließen sich natürlich kostenlos stornieren. Für umgerechnet 95 € pro Person hatten wir somit 5 Nächte in einem hübsch eingerichteten Zimmer eines 3-Sterne Zwei-Zimmer-Appartements gebucht. Beide Räume waren einzeln abschließbar, sodass wir wahrscheinlich „WG-Mitbewohner“ bekommen würden, mit denen wir uns Küche, Bad und Wohnzimmer teilen müssten. Aber das wäre kein Problem für uns.

Kurz vor Beginn unserer Reise, die wir nur mit Handgepäck antreten wollten, gab es das übliche Packen, Wiegen und Ausmessen all unserer Klamotten. Neben den Sportsachen gehörten nämlich sowohl lange, als auch kurze Sachen in die Tasche, da das Wetter zu dieser Jahreszeit noch recht unbeständig ist. Außerdem wollten wir es riskieren, doch ein-zwei Füße ins Wasser zu setzen, sodass auch die Badehose und Schwimmbrille nicht fehlen durften. Im Großen und Ganzen haben wir unsere 2 x 10 kg gut ausgeschöpft und sind am Abend vor Abflug zu meiner Schwester Nicole und Freunden nach Münster gefahren.
Während Sophie im Rahmen der Skatenight mit ein paar Mädels auf Inline-Skates 17 km durch Münster rauschte, habe ich die entspannte Variante gewählt und bin mit zwei Freunden im Schlosspark ein Bierchen trinken gewesen. Am späten Abend trafen wir uns alle wieder, bestellten Pizza und machten uns kurz vor Mitternacht auf den Weg in Nicoles WG. Dort klingelte Samstagmorgen der erste Wecker bereits um kurz vor 5 und riss uns unbarmherzig aus dem Schlaf. Und warum das Ganze? … weil sich meine Schwester und ihr Freund dankenswerterweise bereit erklärt haben, uns zum Flughafen ins 1,5 Stunden entfernte Weeze zu fahren. So sparten wir uns die hohen Parkplatzgebühren vor Ort und Nicole durfte in unserer Abwesenheit das Auto für einen geplanten Ikea-Einkauf nutzen.
Um 07:30 Uhr erreichten wir wie geplant den kleinen Flughafen und verabschiedeten uns von unseren beiden Chauffeuren. Die strahlende Sonne und die vorfreudige Aufregung ließen uns unsere Müdigkeit vorerst vergessen und doch ahnte ich, dass wir den gesamten Flug über schlafen würden. Da halfen auch die bunten Comics nichts, die überall an den Rückenlehnen der Vordersitze angebracht waren …

Pünktlich um 10:50 Uhr landeten wir halbwegs ausgeschlafen im ebenso sonnigen Zadar an einem ebenso kleinen Flughafen wie in Weeze. Von unserem kroatischen Geld (etwa 90 Kuna, also 12 €), das wir aus den Schatullen unserer Eltern mitnehmen durften, kauften wir uns zunächst eine Packung Tuc-Kekse für den kleinen Hunger zwischendurch und wenig später zwei Bustickets für jeweils 25 Kuna (also 3,30 €) pro Person. Alternativ zum Linienbus, der uns mit Zwischenstopp am Busbahnhof in knapp 20 Minuten in die Altstadt brachte, hätten wir nicht mehr oder weniger komfortabel für umgerechnet 20 € von einem persönlichen Fahrer abgeholt werden können. Da wird deutlich, warum wir uns bewusst für den Bus entschieden haben, der bereits über Teile der morgigen Laufstrecke gefahren ist und uns eine kurze Sightseeing-Tour durch das Umland Zadars bereitet hat.

Am westlichen Rand der kleinen Altstadt-Halbinsel angekommen, bewunderten wir zunächst die hohen Stadtmauern und den schönen Binnenhafen mit seinen überschaubaren Booten und Yachten. Da wir den kurzen Weg zu unserem Reise- und Appartementanbieter aus GoogleMaps kannten, marschierten wir mit unserem Gepäck drauf los und staunten an jeder Straßenecke. Die typisch kroatische Altstadt haben wir aus unseren jeweiligen Kroatienurlauben mit unseren Familien genauso in Erinnerung, wie es in Zadar in jeder Gasse ausschaut. Unsere großen Augen wanderten von rechts nach links und das mit Abstand häufigste Wort war „Wow“!

Nachdem wir auf unserem Spaziergang in zwei Wechselstuben den jeweiligen Wechselkurs geprüft hatten, schlugen wir in der dritten Stube zu und wechselten 400 € in 2.932 Kuna (1 € = 7,33 Kuna). Davon würden gleich die 190 € für das Appartement wieder abgehen, sodass wir das restliche Geld auf die folgenden Tage aufteilten. Im Notfall hatten wir natürlich immer noch was im Köcher.
Kurz nach 12 Uhr erreichten wir das kleine Büro unserer Vermieter, in dem sie nicht nur Reisen rund um Zadar an den Touristen bringen wollten, sondern wo es auch eine Handvoll Fahrräder zum Ausleihen gab. Während uns die geführten Touri-Touren etwas zu teuer waren, weckten gerade die robusteren Räder mit breiten Reifen unser Interesse. Wir behielten im Hinterkopf, dass es das Angebot gab, und vertagten die Entscheidung, ob es neben dem Lauftag noch einen zweiten sportlichen Tag geben würde.
Da uns mitgeteilt wurde, dass unser Zimmer noch nicht wieder sauber sei, durften wir unser Gepäck beaufsichtigt im Büro liegen lassen und uns noch einen gemütlichen Spaziergang durch die Altstadt gönnen. Natürlich zog es uns wieder ans Wasser, jedoch diesmal zur offenen Meerseite. Hier kam Sophie aus dem Staunen nicht mehr raus, als sie im glasklaren, stillen Meereswasser die vielen unterschiedlichen Fische sah. Auch ich war erstaunt, wie sauber das Meer und insgesamt das ganze Erscheinungsbild Zadars bisher war. Da kann man einfach nur schwärmen.

Eine andere Sache, die insbesondere meine Aufmerksamkeit im Nu gewonnen hatte, war die Wings for Life World Run Expo und die beiden kroatischen Catcher Cars direkt an der Promenade und nur wenige hundert Meter von uns entfernt. Nach und nach näherten wir uns der Startnummernausgabe, die perfekt organisiert zu sein schien. Da ich unsere Nummern bereits kannte, gingen wir zu dem entsprechenden Pavillon, unterschrieben dort ein Formular, das vorrangig darauf hinwies, dass wir auf eigene Verantwortung laufen, und erhielten im Gegenzug einen Kleiderbeutel inklusiv der Startnummer, einer kühlen Dose Red Bull und einem blauen Veranstaltungsshirt. Hiernach wurde mir langsam klar, dass ich bei unserer Anmeldung die kroatischen Bezeichnungen für „Vornamen“ und „Nachnamen“ verwechselt habe. Das führte dazu, dass wir unter unseren Startnummern nicht unseren Vor-, sondern den Nachnamen aufgedruckt hatten. Naja, Pech, kann mal passieren.

Gegen halb 2 machten wir uns endlich auf den Weg in unser Appartement, auf das ich schon sehr gespannt war. Und zum Glück wurden wir nicht enttäuscht: von unserem schlicht eingerichteten Schlafzimmer hatten wir direkten Zugang auf den langen Balkon, wo uns ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen für unseren morgendlichen Frühstück bereit standen. Außerdem waren die Küche, das Badezimmer und das separate WC gut ausgestattet, sodass es uns an nichts mangeln dürfte. Das bunt eingerichtete, offene Wohnzimmer interessierte uns hingegen weniger, da wir hier nicht zum Fernsehgucken hergekommen sind.
Zum Nachmittag hin machten wir uns wieder auf Erkundungstour durch die schöne Altstadt und hakten direkt mal die berühmte sea organ (deutsch: Meeresorgel) ab. Hierbei handelt es sich um große steinerne Treppenstufen, die zum Meer hinabführen und unter denen sich ein Hohlraum befindet. In einzelnen Stufen gab es zudem gleichmäßig große Löcher, durch die abhängig von der Größe der Wellen, die gegen die Stufen schlagen, unterschiedlich laute Töne hörbar waren. Fuhr beispielsweise ein Schiff an uns vorbei, konnte es schon mal so laut werden, dass man kaum sein eigenes Wort verstand. Aber die meiste Zeit über waren es meditative Hintergrundklänge, die uns sogar zu einem Nickerchen verleiteten.

Bevor es zum frühen Abend nochmal zurück ins Appartement ging, deckten wir uns in einem kleinen Supermarkt namens „Konzum“ für die nächsten Tage ein. Neben all dem üblichen Frühstückskram kauften wir in erster Linie Wasser, Obst, Knabberzeug und zwei-drei kroatische Bierchen.
In der Wohnung angekommen machten wir uns kurz frisch und gingen daraufhin zu einem entspannten Abendessen in die Altstadt. Heute – am Tag vor dem Lauf – stand natürlich ganz viel Pasta auf dem Programm. Und so fiel unsere Wahl auf ein Lokal in einem kleinen Szeneviertel mit gutem Preis-Leistungs-Verhältnis. Da Sophie ihre Portion nicht ganz schaffte, hatte ich nach etwa anderthalb Tellern genau das Maß erreicht, das ich mir vor einem Ultramarathon wünsche.

Sonntag, der 08.05.2016

Vorher

Sonntagmorgen, 9:30 Uhr, der erste Wecker klingelte. Obwohl der Start des Wings For Life World Runs in Zadar erst um 13 Uhr erfolgen sollte, wollte ich nicht zu spät frühstücken, denn es sollte auch rechtzeitig alles verdaut sein, bevor es für uns auf die lange Reise ging.
Während Sophie noch eine halbe Stunde döste, ging ich zum „Konzum“, holte frische Brötchen & Croissants und in einem kleinen Café um die Ecke zwei Coffee to Go. Um 10 Uhr war unser reichhaltiger Frühstückstisch auf dem Balkon dann gedeckt und so lauschten wir beim Essen dem unüberhörbaren Trubel vom naheliegenden Startgelände. Die Nervosität und Vorfreude wurden somit größer. Ein anderes Thema als den heutigen Lauf gab es beim Frühstück also nicht.

Eine Stunde vor dem Startschuss wagten wir uns erstmals ins Getümmel und klärten währenddessen auch die übliche Klamottenfrage. So kurz und knapp wie möglich, lautete die Devise. Auch Sophie entschied sich letztlich dagegen, ihr Halstuch mitzunehmen. Worauf wir bei praller Sonne und knapp 30°C jedoch nicht verzichten konnten, waren Sonnencreme, Kappe und/oder Sonnenbrille. Nachdem wir ein paar letzte Fotos geknipst haben und uns von den Organisatoren mehrmals anhören mussten, wir mögen doch langsam in unseren Startblock gehen, machten wir noch einen schnellen Abstecher ins 50 Meter entfernte Appartement. Dort ließen wir bis auf den Schlüssel, den Sophie in einem kleinen Brusttäschchen bei sich tragen würde, alle Wertsachen im Zimmer, erledigten einen letzten Toilettengang und machten uns dann 15 Minuten vor 1 auf den Weg zum Start.

Zunächst begleitete mich Sophie zu meinem vordersten Startblock, wo ich mich hoffentlich so weit vorne wie möglich positionieren konnte. Wir verabschiedeten uns mit vielen lieben Worten, wünschten uns in erster Linie ganz viel Spaß und hofften beide, dass wir gesund „ins Ziel kommen“ würden. Nach einem letzten Kuss winkte Sophie mir nochmal zu und verschwand weiter hinten im dritten von insgesamt vier Startblöcken. Während ich mich um 12:50 Uhr weiter nach vorne kämpfte und durch die körperliche Nähe zu allen anderen ins Schwitzen geriet, dachte ich an die insgesamt 6.000 Läufer in Zadar und die über 130.000 Verrückten weltweit, die nun gleichzeitig dasselbe Ziel verfolgten wie ich. Schon genial, so ein Event!
In der dritten Reihe angekommen gab es kein Weiterkommen mehr für mich. Zu dicht gedrängt standen dort schon die Männer, die sich den Platz sicher vor über einer halben Stunde gesichert hatten. Sollen sie ruhig. Zu allem Überfluss gesellten sich dann noch die beiden Musiker des Duetts „2Cellos“ zu den Läufern, die in Kroatien scheinbar bekannter und beliebter waren, als ich geahnt hatte. Es folgten noch unzählige Fotos und Selfies von und mit den beiden, bevor die Organisatoren Ruhe ins Feld brachten. Der Countdown näherte sich. Die Kameras an den Seiten, die Seilbahn-Kamera und auch die Drohne über unseren Köpfen waren bereit für das Spektakel. Nun bekam auch ich trotz Hitze die lang ersehnte Gänsehaut. Was nun passieren wird, ist außergewöhnlich und etwas bisher Einmaliges für mich. Wo und wann sonst duellieren sich Frauen und Männer auf sportlicher Ebene weltweit zur gleichen Zeit? Mir ratterten Szenarien durch den Kopf: Welchen Platz erreiche ich in Kroatien? Welchen Platz weltweit? Wo wäre ich mit meiner heutigen Distanz gar Sieger? Werde ich nach diesem Lauf noch Lust auf einen weiteren Wings For Life World Run haben?
Und dann ersetzte der Countdown und der erlösende Startschuss meine vielen Fragen im Kopf. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Auf geht’s Zadar! Auf geht’s, du große kleine Welt! Lasst uns für diejenigen laufen, die es nicht können! Running for those who can’t!

Der Lauf

Während die ersten Verrückten lossprinteten, als sei es ein 5-km-Wettkampf, wollte ich mich bewusst ein wenig bremsen. Andererseits mochte auch ich auf den Live-Bildern zu sehen sein und so ließ ich meinen Beinen vorerst freien Lauf und drehte mich zu jeder Kamera um, die ich finden konnte. Der Startschuss war erst wenige Sekunden her, doch ich winkte bereits in unzählige Kameralinsen. Die wohl wichtigste war die Seilbahn-Kamera wenige Meter über unseren Köpfen, die von rechts hinten nach links vorne fuhr und auf die erste große Gruppe gerichtet war. Meine Hoffnung bestätigte sich erst am Abend, als wir den Video-Clip im Internet sahen. Mein Winken wurde eingefangen …

Nach etwa 300 Metern führte uns die breite Straße rechts ab immer an der Promenade der Altstadt-Halbinsel entlang. Keine 200 Meter später abermals eine Rechtskurve und schon ging es auf der Straße „Liburnska obala“ an den hohen Stadtmauern entlang Richtung Festland. Bei KM 1 (in 03:41 min) merkte ich, was die Euphorie bei mir bewirkt hatte. Obwohl die Zuschauer am Streckenrand nicht wie erhofft am Jubeln waren, motivierte mich der Trubel dennoch zu einem viel zu schnellen Beginn. Geplant war ein Durchschnittstempo von 04:19 min/km.
Zudem motivierte mich meine derzeitige Platzierung unter den Top-5 des kroatischen Starterfeldes. Natürlich war ich mir gleichzeitig im Klaren, dass die Einheimischen mit den klimatischen Bedingungen von ca. 30°C und permanenter Sonne und der womöglich hügeligen Strecke besser klar kommen würden, als ich. Somit wollte ich nicht zu früh ins Träumen geraten.

Als es mit dem zweiten Kilometer (in 03:59 min) über breite, leere Hauptstraßen tiefer ins Inland ging, fiel mir eine Besonderheit auf: Obwohl sehr viele Zuschauer den Streckenrand säumten, kam keine solch überwältigende Stimmung auf, wie ich es selbst von kleineren Läufen gewöhnt bin. Grund dafür war womöglich, dass über die Hälfte aller Zuschauer ihr Smartphone gezückt und uns Läufer permanent gefilmt haben. Das Gesicht ins Display vergraben. Merkwürdig.
Trotz allem ließ ich es mir nicht nehmen, für die gewünschte Stimmung zu sorgen, und so fuchtelte ich wie so häufig mit meinen Armen nach oben und animierte das Publikum zum Lauter-Werden. Die Reaktion kam prompt, wenn auch verhalten. Zudem hielt ich mir die Hand ans Ohr, was so viel heißen sollte wie ‚Ihr seid zu leise‘!
Bei Km 3 (in 04:04 min) bogen wir nach rechts auf eine noch größere Straße ein, die links am Bahnhof vorbeiführte. Diese zum Teil dreispurige und für uns komplett gesperrte Hauptstraße (Ul. Vlatka Mačeka) war nun endgültig der Weg aus dem Städtchen Zadar hinaus. „Bis sehr sehr bald!“ dachte ich mir.
Mein Ziel war es von nun an, mein Tempo gleichmäßiger zu gestalten und Kräfte zu sparen. Dennoch wollte ich auf die Interaktion mit den Zuschauern nicht verzichten und so entschied ich mich ab sofort für den allseits bekannten „Daumen-Hoch“, wenn für mich applaudiert wurde. KM 4 und 5 spulte ich in 04:10 min und 03:56 min ab, was noch nicht auf die gewünschte Konstanz schließen ließ.
Während uns der Führende mit seinen offiziellen Fahrrad-Begleitern schon deutlich enteilt war, überholten uns in unregelmäßigen Abständen Motorräder, auf denen hinter dem Fahrer auch Fotografen saßen, die Fotos von uns knipsten. Auch hier konnte mir die eine oder andere Pose entlockt werden, wie später noch zu sehen sein wird. Außerdem erreichten wir an diesem Punkt des Rennens unseren ersten Verpflegungsstand, der neben unterschiedlichen Getränken auch Früchte bot. Ich entschied mich wie so häufig für einen vollen Becher Wasser, der jeweils zur Hälfte im Rachen und im Gesicht landete. Die Erfrischung tat bei diesen Temperaturen richtig gut und ich sehnte mich schon nach der nächsten Wasserstation.
Zwischen KM 6 und 9 (in 04:06 min, 04:10 min, 04:03 min und 04:05 min) änderte sich kaum etwas an meiner Platzierung. Meistens befand ich mich um den fünften Platz herum und war damit mehr als zufrieden. Diese Platzierung war jedoch der Hauptgrund, warum ich mich nicht bremsen konnte. Langsamer werde ich sowieso – war ich mir sicher – aber es sollte gewollt und kontrolliert geschehen und nicht erst dann, wenn ich k.o. sein würde.
Ablenkung musste her und die gab es in Form von Natur rings um mich herum. Obwohl wir auf einer breiten Asphaltstraße unterwegs waren und soeben den Industriebezirk von Zadar passiert hatten, freute ich mich darüber, bei KM 7,5 erstmals seit dem Verlassen der Altstadt wieder das Meer zu erblicken. Ich dachte sofort an Sophie, die diesen Punkt mit Sicherheit auch erreichen würde und sich bestimmt genauso über den Ausblick freuen würde wie ich.
Weiter Richtung Süden des Landes erreichten wir das erste kleine Örtchen namens Bibinje. Hier gab es wieder etwas mehr Rummel am Streckenrand und so standen hier und da kleine Tische mit einigen Wasserbechern darauf, die Privatpersonen für die Läufer rausgestellt hatten. Da ich nicht wusste, wo das Wasser herkam, wollte ich es nicht riskieren und wartete auf den nächsten offiziellen Getränkestand. Mit dennoch positiver Stimmung und einem Lächeln im Gesicht lief ich KM 10 entgegen (in 04:04 min). Das persönliche Highlight an diesem Punkt der Strecke war ein verlassenes Fußballfeld mit einer kleinen steinernen Tribüne direkt am linken Streckenrand. Mich erinnerte diese Szenerie an das Fußballfeld, das ich während eines Trainingslaufs im Familienurlaub in Senj (Kroatien) auf einer Höhe von 750 m üNN. entdeckt hatte.

© Tomislav Može
© Tomislav Može

Nach 10 km in viel zu schnellen 40:18 min befand sich die zweite Verpflegungsstation am rechten Streckenrand. Auch hier bediente ich mich wieder an einem Becher Wasser und kam danach ein wenig ins Grübeln: Sollte sich der Abstand zwischen zwei Erfrischungsständen auf 5 km einpendeln, wäre das meiner Meinung nach bei diesem Wetter zu viel. Das Verlangen nach Wasser wird bei mir bald so groß sein, dass ich im Zweifel Gehpausen einlegen und mehrere Becher zu mir nehmen muss. Nun ja, kann man nichts machen …
Für entsprechende Ablenkung und Motivation sorgte zwischen KM 11 und 13 (in 03:51 min, 04:03 min und 04:04 min) der Ausblick auf eine kleine Bucht mit kleinem Hafen in dem Ort Sukošan. Hier bekamen wir einen Vorgeschmack auf die kommenden Stunden, in denen wir non-stop Blick auf das Adriatische Mittelmeer haben werden. Eine andere Art der Ablenkung kam in Form von 4 starken Läufern von hinten angerauscht und überholte mich auf diesem Abschnitt des Rennens. Alle vier unterhielten sich auf Kroatisch und wirkten ganz locker und entspannt. Gleichzeitig wurde das Laufen für mich härter und härter. Meine Bemühungen, an den Laufkollegen dranzubleiben, reduzierte ich auf ein Minimum. Somit gab ich mich schnell mit dem nunmehr 9. oder 10. Gesamtplatz zufrieden.
Kurz hinter KM 14 (in 04:08 min) entdeckte ich dann zum ersten Mal einen leeren Linienbus am linken Straßenrand stehen, der hinter der Windschutzscheibe mit „Shuttle-Bus“ gekennzeichnet war. Mir kam das recht spät vor, denn in den Ergebnislisten der beiden Vorjahre konnte man sehen, dass überaus viele Läufer weniger als die besagten 14 km geschafft haben. Sofort dachte ich an Sophie, die es hoffentlich bis in die Nähe eines Shuttle-Busses oder einer Verpflegungsstelle schaffen sollte, um nach dem Lauf die nötige Versorgung zu bekommen.

© Predrag Vučković
© Predrag Vučković

Bei KM 15 (in 04:05 min) überliefen wir erstmals elektronische Kontrollmatten, die unsere Zeit und Position im Gesamtfeld sicher ohne Verzug ins Internet übermittelten. Womöglich sehen meine Liebsten in Deutschland und Polen gleich, wie es bei mir läuft. Denn alle waren vorgewarnt, dass es eine Online-Übertragung geben sollte. Jedoch waren meine 01:00:29 Std. über diesen ersten Abschnitt wenig aussagekräftig. „Viel zu schnell“ lautete die Devise und ich machte mich auf ein frühes Treffen mit dem Hammermann bereit.
Die ersten langsameren Kilometer ließen nicht lange auf sich warten (KM 16 in 04:11 min und KM 17 in 04:13 min). Alles noch absolut im Rahmen, dachte ich mir, aber meine Theorie von den 5-km-Abständen zwischen den Wasserstellen schien sich leider zu bewahrheiten. Kurz hinter KM 15 gab es die dritte und auf den mittlerweile sehr langen Geradeaus-Passagen war in der Ferne nichts zu sehen. Na dann Augen zu und durch!
… oder lieber Augen auf, denn von nun an war ich so nah am Meer, wie noch zu keinem Zeitpunkt des Rennens. Zwischen dem rechten weißen Markierungsstreifen meiner leeren Asphaltstraße und dem kühlen Meer, welches vor sich hin rauscht, lagen nur wenige Meter. Spätestens jetzt musste ich wieder an meinen atemberaubenden Big Sur Marathon in Kalifornien denken, wo ich dieser Natur ebenso nah war, wie zum jetzigen Zeitpunkt.
Kilometer um Kilometer spulte ich ab und genoss die Ruhe in vollen Zügen (KM 18 in 04:09 min, KM 19 in 04:15 min). Erschöpfung und Hitze hin oder her – ich sollte dankbar sein, laufen zu können und hier laufen zu dürfen. Ab und zu dachte ich an den eigentlichen Zweck dieser Veranstaltung und an die hoffentlich hohe Spendensumme, die nach diesem Tag der Rückenmarkforschung zugutekommen wird.
Mit KM 20 (in 04:11 min) erreichte ich die vierte Getränkestation, an der ich wie gewohnt zum Wasser greifen wollte. Ein älterer Mann reichte mir einen Becher entgegen und rief mir „Water“ zu. Doch sobald ich den Becher griff und an meinen Mund ansetzte, schmeckte ich ein isotonisches Getränk. Na toll. Wie soll ich mir dieses Zeug denn bitteschön ins Gesicht kippen? Ich verzichtete somit auf die ersehnte Erfrischung und hoffte auf ein glücklicheres Händchen bei KM 25.
Nachdem ich das kleine Örtchen „Sveti Petar na Moru“ hinter mir gelassen habe, gab es die nächste bekannte Zwischenzeit bei KM 21 (in 04:14 min). Den Halbmarathon absolvierte ich demnach in 01:25:42 Stunden, womit ich natürlich mehr als zufrieden war. Das gewohnte Gemecker über das viel zu hohe Anfangstempo erspare ich mir aber an dieser Stelle und möchte stattdessen nochmal auf die Schönheit der Natur aufmerksam machen, wie man auf den folgenden Fotos sehen kann.

Nun ging es für mich in großen Schritten auf den Mann mit dem Hammer zu: KM 22 in 04:10 min war der letzte schnelle Abschnitt, den ich aus meinem Körper rauskitzeln konnte. KM 23 und 24 schaffte ich in jeweils 04:18 min, was nur noch knapp unter meinem anvisierten Durchschnittstempo lag. Die Hitze, der fehlende Schatten und eine leicht wellige Strecke machten mir das Leben schwer. Bei KM 25 (in 04:21 min) griff ich zum Becher Wasser, trank wieder die Hälfte, erfrischte mich mit dem Rest und biss die Zähne zusammen (KM 26 in 04:26 min).
Meine Kontrahenten hatten nicht weniger zu kämpfen, denn der eine oder andere Läufer vor mir hatte ähnliche Probleme. Manch einer musste sogar schon Gehpausen außerhalb der Getränkestationen einlegen. Gleichzeitig gab es die Vorbilder, die sich die Kräfte besser eingeteilt hatten als ich: So zum Beispiel ein junger Mann aus Polen, der mit Trinkrucksack und einer kleinen, daran befestigten Polen-Flagge unterwegs war. Etwa nach 2 Stunden überholte er mich mit konstantem Tempo und zeigte keine Ermüdungserscheinungen. Ich versuchte natürlich, lang genug an ihm dran zu bleiben, doch nach wenigen hundert Metern gab ich auf.
KM 27 und 28 (in 04:31 min und 04:32 min) folgten dem Negativtrend und so plante ich, wann ich mein Ass zücken sollte. In der kleinen Innentasche meiner Laufhose steckte nach wie vor ein Energiegel, welches ich nach etwa Zwei-Drittel der Strecke zu mir nehmen wollte. Am besten nimmt man das klebrige Zeug kurz vor einer Getränkestation, um sich dann den Mund auszuspülen. Und da ich nicht mehr bis KM 35 damit warten wollte, entschied ich mich dazu, das Gel kurz vor KM 30 zu mir zu nehmen.
Nach zwei weiteren, sehr harten Kilometern (KM 29 in 04:48 min, KM 30 in 04:44 min), die ein wenig ins Inland führten, sah ich die nächste Verpflegungsstelle im Schatten einiger großer Bäume. Das süße Energie-Gel mit Kirsch-Geschmack war 100 Meter vor dem Wasserstand im Nu runtergeschluckt. Daraufhin ging mein Griff zum Wasser und erstmals im Verlauf des Rennens blieb ich kurz stehen und trank den ganzen Becher leer. Zudem gönnte ich mir diesmal ein-zwei Schlucke Red Bull als kleine Belohnung für Zwischendurch und zu guter Letzt schnappte ich mir gar eine 0,5-Liter-Flasche Wasser, die ich mit auf die Strecke nahm. Solange ich für Erfrischung sorgen konnte, wann ich wollte, war mir die Zusatzlast recht.

Durch diese etwas längere Trinkpause schlich sich nun der erste Abschnitt über 5 min in meinen Lauf (KM 31 in 05:07 min) – jedes Mal ein sehr demotivierender Moment, auch wenn es abzusehen war. Ich suchte nach Argumenten, die mich wieder schneller machen könnten, und entschied mich für die kurzen Schattenpassagen, die es nun vereinzelt gab. Das Kühlende des Schattens sollte mir die nötige Erholung bieten, sofern das überhaupt möglich war, aber daraus wurde leider nichts (KM 32 in 04:56 min).
Erst auf den folgenden 3 km, die leicht bergab in das Dörfchen Pakoštane führten, konnte ich neue Kraft gewinnen. Vielleicht war es aber auch das Gel, dessen konzentrierte Kohlenhydrate meine Zellen endlich erreicht hatten (KM 33 – 35 in 04:38 min, 04:42 min und 04:45 min). Was ich auf diesem Abschnitt erstmals am heutigen Tag erlebt habe, war der Versuch eines jungen Mannes, der mir meinen Namen zurufen wollte. Er kniff die Augen zusammen und stammelte irgendwas, was meinem Nachnamen ähnlich war. Hätte ich doch bei der Anmeldung aufgepasst, so wäre mein Vorname sicher häufiger gefallen. Nunja, was soll’s.
Nachdem es aus dem Dörfchen hinausging und ich mich am Wasserstand bei KM 35 wieder mit einer neuen Flasche Wasser eingedeckt hatte, konnte ich zwischen den Bäumen auf der linken Seite einen großen See entdecken. Es handelte sich um den See „Vransko jezero“, der so lang war, dass ich dessen Ende heute sicher nur schwer erreichen würde. Auf dem Rest der Strecke war ich somit rechts und links von Wassermassen umgeben. Spätestens jetzt dachte ich an den Moment, in dem Sophie und ich bald ins kühle Nass springen würden. Sollte es noch heute sein oder erst morgen? Egal, aber diese kühle Belohnung werden wir uns verdient haben.
Das Schwärmen verleitete mich zu einem langsameren Kilometer (KM 36 in 04:56 min) und warf in mir erneut die Frage auf, ob ich SO überhaupt den Marathon schaffen konnte. Ständig dieses Wechselbad der Gefühle: Schaffe ich’s oder schaffe ich’s nicht? Wenn ja, wie deutlich? Wird es „nur“ ein Marathon oder ein offizieller Ultra (> 45 km)? Fragen über Fragen und keine Kraft zum Rechnen, denn das Ausrechnen meiner möglichen Restzeit bis zum Catcher Car kostete mich zu viel Konzentration.

© Tomislav Može
© Tomislav Može

Bevor es bald in die entscheidende Phase ging, lief ich mit großen Schritten dem kleinen Dorf „Drage“ entgegen und konnte dadurch nochmal ein paar Sekunden gutmachen (KM 37 in 04:43 min und KM 38 in 04:36 min). Doch dann kam der Hammer in Form einer lang gezogenen Steigung. Wie ich später im Internet gesehen habe, befand sich zwischen der Strecke und der Meeresküste eine 111 Meter hohe Erhebung. Diese war also der Grund für den leichten Anstieg, den ich nun sehr mühsam zu bewältigen hatte (KM 39 in 05:11 min und KM 40 in 05:10 min). Der Schmerz saß tief und war nicht nur in den Beinen zu spüren, sondern auch im Herzen. Zu allem Übel hörte ich laute Motorräder von hinten anrauschen, woraufhin zwei-drei Radfahrer und anschließend die führende Frau folgten. Meine erste Reaktion war natürlich ein erstaunter, aber respektvoller Blick nach rechts über die Schulter. Eine super Leistung und perfekte Krafteinteilung, für die ich meine Kappe abnahm und mich leicht verbeugte. Chapeau! Wer weiß, ob dieser Ausschnitt später irgendwo zu sehen sein wird, denn um die führende Dame herum wimmelte es nur so von Kameras. Als Dank lächelte sie mir kurz zu, ich lächelte zurück und dann wurde der Kampf mit der Natur und meinem eigenen Körper fortgesetzt.

Als es aus dem letzten Dörfchen des Rennens hinausging und ich mir an der Verpflegungsstation bei KM 40 eine weitere Flasche Wasser schnappte, konnte ich kurz vor dem Marathon noch zwei ganz gute Kilometer absolvieren (KM 41 in 04:47 min und KM 42 in 04:48 min). Die Königsdistanz war somit nach einer Zeit von 03:04:09 Stunden erreicht. Ich durfte zufrieden sein und war es auch. Außerdem konnte ich nun leichter ausrechnen, wo das Catcher Car sich befinden müsste. Läufer, die den Marathon schaffen wollen, haben maximal 03:08 Std. zur Verfügung, sodass ich zum aktuellen Zeitpunkt 4 Minuten Vorsprung hatte. Und da das Catcher Car derzeit etwa 1 Minute pro Kilometer schneller unterwegs war, als ich, müssten noch etwa 4 km zu schaffen sein. Ein neues Minimalziel war gefunden: ich wollte unbedingt KM 46 knacken!
Aufgrund des recht hügeligen Terrains waren meine folgenden 2 km nicht allzu berauschend (KM 43 in 04:51 min und KM 44 in 05:09 min). Von neu gewonnener Motivation war auf meiner Laufuhr nichts zu sehen. Jedoch konnte ich in dieser Schlussphase einen anderen Erfolg verbuchen. Etwa bei KM 43,7 konnte ich mich der führenden Läuferin wieder nähern und sie letztlich überholen. Während sich mein Tempo nicht allzu sehr verändert hat, hatte sie nun mit dem Hammermann zu kämpfen. Diesmal verzichtete ich auf jegliche Kommunikation, sondern konzentrierte mich auf meine eigenen letzten Meter. Platzierungstechnisch hatte ich auch den Überblick verloren, aber ein Platz in den Top-10 war es ganz sicher.
Viele hundert Meter vor mir war nichts zu sehen, rechts und links von mir nur grüne Sträucher und kein Schatten. Nun fühlte ich mich wie ein einsamer Cowboy in der Prärie. Ein komisches Bild, ich weiß, aber die Landschaft und die Temperatur ließen mich das denken.
Doch als ich am rechten Streckenrand einen Fotografen hinter dem 44. Kilometerschild sitzen saß, riss es mich aus dem Traum und gleichzeitig riss ich die Arme hoch. Eine vorzeitige Finisher-Pose musste her, die mir hoffentlich gut gelungen ist.

© Tomislav Može
© Tomislav Može

Mit der Erlösung vorm geistigen Auge scheint es sich doch besser zu laufen, wie ich bei KM 45 (in 04:33 min) gemerkt habe. An der für mich letzten Wasserstation verzichtete ich auf die kleine Flasche und beließ es bei dem Becher, den ich mir komplett in den Rachen kippte. Nach 100 Metern war der Mund aber wieder trocken und ich kämpfte mich, wie durch eine Wüste.
Wann kommt das Auto denn nun? Ich konnte es kaum herbeisehnen, doch bevor es soweit war, entdeckte ich in der Ferne das nächste Schild. Sollte ich es schaffen? Ich drehte mich um und sah das Catcher Car hinter mir … zum ersten Mal … und es näherte sich bedrohlich langsam. KM 46 scheint machbar zu sein und ich spürte, wie meine Beine einen Zahn zulegten. BÄM, meinen letzten Kilometer spulte ich in schnellen 04:27 min ab! Das war aufgrund meiner Verfassung kaum vorstellbar.
Ein paar Meter weiter war das Catcher Car sogar schon zu hören. Nun dauerte es nicht mehr lang. Eine knappe Minute später waren sogar Stimmen zu hören … es waren die Stimmen der Fahrer. Und für mich stellte sich die alles entscheidende Frage: Ist diese fahrende Ziellinie eigentlich ein Konkurrent oder ein Freund für mich?
Sie ist ein Freund! Denn ein Konkurrent kann sein Tempo beeinflussen, das Catcher Car darf es nicht. Ein Konkurrent hat partout die Absicht, gegen mich zu gewinnen, während das Catcher Car durch sein Tempomat gezwungen wird, mich zu überholen. Dieser große Renault kann nichts dafür und auch die Fahrer dürfen nicht auf die Bremse treten. Somit ist alles klar: ein „guter Kumpel“ wird mich gleich überholen.
Ein letzter Sprint, als ich die Motorhaube links neben mir entdeckte! Ich konnte sogar eine kleine Lücke heraussprinten, doch dann war ich k.o.! Das Catcher Car überholte mich, ein Piepen war zu hören und die Insassen applaudierten und jubelten mir zu. Plötzliche Party-Stimmung irgendwo im Nirgendwo. Ich zog mir wieder meine Kappe vom Kopf, verneigte und bedankte mich für diese einmalige Erfahrung und war aus vielerlei Gründen einfach nur sprachlos. Gänsehaut!
03:24:23 Stunden Quälerei … 46,41 Kilometer Quälerei … und einfach nur glücklich, dass ich diese Qualen hier in Kroatien erleiden durfte! So ticken wir Marathonis nunmal …

Nachher

‚Und was passiert danach?‘ habe ich mich schon im Vorfeld gefragt. Das Catcher Car war im Nu weg und hinter mir war keine Seele zu sehen. Zurück zum Verpflegungsstand sind es unmögliche 1,4 km. Das schaffe ich nie!
Völlig erschöpft suchte ich eine Stelle, wo ich mich hinsetzen oder gar hinlegen konnte. Die Sträucher am Straßenrand boten kaum Schatten und der Untergrund war steinig und unbequem. So entschied ich mich dazu, mich flach auf den Asphalt zu legen. Was im ersten Moment schön war, war im zweiten Moment schwierig, denn ich konnte keine bequeme Position finden. Mein Körper kämpfte und sehnte sich ein Bett herbei. So müde war ich selten zuvor nach einem Marathon.
Als die beiden Fahrradbegleiter der führenden Frau, die sicher gut 1 km hinter mir überholt worden war, an mir vorbeifuhren, fragten sie mich, ob alle in Ordnung sei. Ich zeigte einen Daumen-Hoch und hoffte, dass bald jemand mit reichlich Getränken auf mich zukam. Der Daumen war natürlich eine Lüge, aber so bin ich. Die Radfahrer schienen es eilig zu haben und so winkte ich sie fort.
Die nächsten Minuten waren für mich Erholung und Qual zugleich. Die zweite Erlösung des Tages kam dann aber knapp 10 Minuten nach Ende meines Rennens in Form eines dunklen VW Bullis. Der Fahrer bat mich ins leere Auto, doch als ich die große Schiebetür geöffnet hatte, ließ sich der Sitz nicht nach vorne klappen, um hinten einzusteigen. Und so setzte ich mich vorerst in die erste von zwei Sitzreihen. Mein Kopf lehnte sofort ans Fenster und auch der Rest des Körpers war schlapp wie nie zuvor. Der Fahrer fuhr weiter und fragte mich währenddessen: „Are you okay?“. Ich antwortete „Yes“ und fragte danach direkt nach Getränken. Er bot mir Wasser und Red Bull an und sagte, im Kofferraum wären auch Bananen, wenn ich möchte. Na immerhin war mein Überleben gesichert, dachte ich mir.
Wir fuhren in hohem Tempo den nächsten beiden Läufern hinterher, die mit 47,26 km und 47,33 km nur knapp 900 Meter mehr geschafft hatten, als ich. Weshalb ich sie von weitem nicht gesehen habe, mag an den leichten Hügeln auf der Strecke gelegen haben. Als beide einsteigen wollte, half uns der Fahrer mit dem Zurückklappen des Sitzes und so nahmen einer von beiden und ich auf der hinteren Reihe Platz. Nach ein paar Worten reichten wir uns gegenseitig die Getränke und Bananen hin und her.
Der vierte Läufer ließ auch nicht lange auf sich warten, denn er erreichte letztlich 48,12 km. Wie sich dann herausstellte, war er der insgesamt Drittplatzierte des Rennens in Zadar. Wow! Eine Distanz, die auch im Rahmen meiner Möglichkeiten gewesen wäre, wenn ich … naja, all diese „hätte, könnte, wäre“ möchte ich mir ersparen. Mit meinem 6. Platz und der Leistung bin ich top zufrieden.
Nun machten wir uns auf den Weg, den Zweitplatzierten einzusammeln, was zu einer sehr langen Autofahrt führte. Sage und schreibe 7,5 km Vorsprung hatte dieser rausgelaufen und landete letztlich bei 55,83 km, Respekt!
Endlich waren wir komplett, denn der Sieger (56,35 km) hatte das Privileg, im Catcher Car zurückgefahren zu werden. Eine lange Fahrt stand uns bevor und da ich einerseits erschöpft war und andererseits die Umgebung schon kannte, gönnte ich mir eine Mütze Schlaf. Der Körper hatte zwar Schwierigkeiten, eine bequeme Position zu finden, aber schließlich war es möglich, ein paar Minuten zu entspannen. Nach einem kurzen Zwischenstopp, bei dem sich der Fahrer ein Paket mit 12 Cola-Flaschen von einem ehemaligen Verpflegungsstand schnappt und uns nach hinten reichte, ging die rasante Fahrt weiter.
Gefühlt waren wir eine Stunde unterwegs und ich war gespannt, wo wir in der Altstadt rausgelassen werden. Wird Sophie am geplanten Treffpunkt auf mich warten? Wie ist es ihr überhaupt ergangen? Kann ich gleich noch einen Schritt vor den anderen setzen?
Beim Aussteigen aus dem Auto fiel mir das Knicken meines linken Knies wieder weh. Na toll, hoffentlich kehrt die Verletzung aus dem Frühjahr nicht wieder. Ich bedankte mich zwei-dreimal bei dem netten Fahrer für den Transport und ging ein paar Meter Richtung Meer. Der steinerne Steg, wo wir gestern die Catcher Cars stehen sahen, sollte unser Treffpunkt sein, doch von Sophie keine Sicht. Womöglich war es ihr etwas zu windig und zu kalt geworden, da in der Zwischenzeit ein paar Wolken aufgezogen sind. So ging ich trotzdem bis ans Ende des Stegs, da sie mich vielleicht von einem anderen Ort aus erblicken würde. Doch leider geschah nichts.
Nach ein-zwei Minuten machte ich mich auf den Weg zurück zum Appartement, wo Sophie ebenfalls sein könnte. Die Beine schleifte ich irgendwie hinter mir her, aber es hat in der Vergangenheit schon schlimmer mit mir ausgesehen. Solange ich in Bewegung blieb, war alles in Ordnung. Kurz bevor ich um den Häuserblock herum war, kam mir mein Schatz mit großen Augen entgegen. Wir fielen uns in die Arme und drückten uns erstmal einige Zeit. JETZT fing unser Urlaub an, dachte ich mir im ersten Moment. Jetzt ist die Pflicht getan und die Kür darf folgen.
Wir wechselten schnell ein paar Worte und gingen dann zurück zum Appartement, wo wir uns in Ruhe alles erzählen wollten. Wie ich schon bald erfahren habe, hat Sophie ihre (und meine) Erwartungen deutlich übertroffen. Während wir anfangs dachten, dass 10 bis maximal 12 Kilometer realistisch wären, hat sie doch glatt 15,57 km in knapp über 1,5 Stunden abgespult – Wow! Noch nie zuvor ist Sophie eine so lange Distanz gelaufen, noch nie zuvor bei solchen Temperaturen und noch nie zuvor so extrem gleichmäßig: 5 km nach etwa 29 min, 10 km nach 59 min und 15 km nach knapp 90 min. Bei diesen Erzählungen wurde ich sprachlos. Respekt, mein Schatz!

Wie ich in den Stunden nach dem Lauf erfahren habe, waren unsere Liebsten in der Heimat ähnlich aufgeregt wie wir. Meine Schwester Nicole teilte mir mit, dass sie regelmäßig online geschaut hat, auf welchem Platz ich lag. Sobald die letzten Läufer eingesammelt wurden, konnte sie auch sehen, welcher finale Platz für mich rausspringen könnte. All diese Daten schickte sie mir anschließend. Das war ein schönes Gefühl – Danke für’s Dabeisein.

Nach einer ausgiebigen Dusche hieß es an diesem Sonntag nur noch: Beine hoch und Chillen! Natürlich machten Sophie und ich uns auch Gedanken, was wir in den kommenden 3 Tagen noch machen könnten, doch die Entscheidung(en) trafen wir gaaanz in Ruhe.
Und so folgte am Montag ein entspannter Tag am Meer mit anschließendem Abendessen und nächtlichem Spaziergang durch die Altstadt. Der Dienstag wurde wieder aktiver, denn wir fuhren mit der Fähre und zwei soliden Fahrrädern unterm Hintern auf die benachbarte Insel Ugljan und erkundeten diese den ganzen Tag über. Insgesamt haben wir knapp 50 km zurückgelegt und viele schöne Orte entdeckt. Bevor am Donnerstagmorgen unser Flieger zurück nach Deutschland flog, gönnten wir uns am bewölkten und leicht verregneten Mittwoch noch einen entspannten Tag in der Altstadt mit kleinem Shopping-Ausflug, Postkarten-Schreiben und einem Zwei-Gänge-Abendessen im Restaurant.
Insgesamt hat Zadar uns so gut gefallen, dass wir einen solchen Kurztrip allen Verwandten, Freunden und Bekannten nur wärmstens empfehlen können. Kroatien ist ohnehin eines der schönsten Länder Europas, egal in welches Städtchen man reist :-)

Zahlen & Fakten

Distanz

 

Gelaufene Zeit (Netto)

 

Gelaufene Zeit (Brutto)

 

Altersklasse

 

AK-Platzierung

 

Platzierung (Männer)

 

Gesamtplatzierung

 

Globale Platzierung

46,41 km

 

03:24:23 Std.

 

03:24:23 Std.

 

M25

 

2. von 531 (0,4 %)

 

6. von 2761 (0,2 %)

 

6. von 5713 (0,1 %)

 

246. von 130.732 (0,2 %)