56. innogy Marathon "Rund um den Baldeneysee" Essen

14.10.2018

Vorher

Nachdem ich letztes Jahr etwa zur selben Jahreszeit zum 50. Jubiläum des Schwarzwald Marathons gereist bin, verschlug es mich dieses Jahr relativ spontan zu Deutschlands ältestem, bis heute ununterbrochen ausgetragenen Marathonlauf: dem 56. innogy Marathon „Rund um den Baldeneysee“ südlich von Essen. Warum „relativ spontan“? Da muss ich etwas ausholen.
Am Mittwochnachmittag, den 26.09.18, nahm ich an einer Startplatz-Verlosung durch das Schweizer Laufunternehmen Running.COACH teil. Hierbei wurde auf der Facebook-Seite dazu aufgerufen, eine Zahl zwischen 1 und 5000 zu tippen. Die beiden Tipper, die den zwei ausgedachten Zahlen am nächsten lagen, sollten gewinnen. Bei insgesamt nur vier Personen, die getippt hatten, rechnete ich mir mit meiner 2424 berechtigte Chancen aus.

Leider gab es in den Folgetagen keine Reaktion durch die Betreiber, sodass ich am Freitag, den 05.10.18, einfach mal eine freundliche Nachricht formulierte und auf positive Rückmeldung (mit Startplatz-Zusage) hoffte. Diese kam erst am folgenden Montag und somit wenige Stunden nachdem die Voranmeldung des Laufs geschlossen hatte. Pech!
Mir wurde jedoch versprochen, mit dem Marathon-Veranstalter Kontakt aufzunehmen und zu prüfen, ob vielleicht doch eine nachträglich Meldung möglich wäre. Nachdem ich auch hiernach vorerst keine Rückmeldung erhalten hatte, schrieb ich den Organisator kurzerhand selbst an und bekam dann am späten Dienstagabend, den 09.10.18, die kurze und knappe Mail, ich dürfe starten.
Uff, was für eine Prozedur. Aber für das Ersparnis von 65 € Nachmeldegebühr hat es sich gelohnt, würde ich sagen. Außerdem fehlt mir dieser Marathon ja noch in meiner Sammlung :-)

 

Die Vorbereitung auf dieses Event verlief dieses Mal nicht nach Lehrbuch. Fünf Wochen zuvor lief ich in Winschoten einen nahezu perfekten Wettkampf über 50 km und knüpfte vier Tage später den Bacardi-Super-Cup in Hamburg an, bei dem an nur einem Abend alle 8 Laufdistanzen auf der Tartanbahn (100 m bis 10.000 m) in unsortierter Reihenfolge absolviert werden mussten. Die armen Beine waren nach diesen Aufgaben so müde, dass ich mehrere Tage Regenrationspause brauchte. Leider schloss sich hiernach die beruflich stressige Phase der Weihnachtstagungen an. In einer Woche (17.09. – 23.09.) habe ich nur ein einziges Mal lockere 8 km laufen können. Die Folgewoche war mit 81 km wieder ergiebiger, bevor dann – bedingt durch den Besuch des Münchner Oktoberfests – nur eine 53-km-Woche folgte. In den letzten 6 Tagen vor dem Tag X konnte ich dann aber wieder knapp 108 km zusammenkratzen.
Jetzt galt es, in den zwei-drei Nächten vor dem Wettlauf ausreichend viel und gut zu schlafen. Den Freitag und Samstag verbrachte ich in der WG meiner Freundin in Bielefeld meistens alleine, da sie sich noch in ihrer ganztägigen Sommerschule befand. Ich nutzte die Zeit, indem ich am Samstag lockere 25 km Laufen ging (05:04 min/km), Reis und Nudeln kochte und am Samstagabend den Ironman Hawaii schaute. Und zwischendurch gab es immer mal wieder ein Nickerchen.

Samstagnacht ging es für uns erst um 01:00 Uhr ins Bett, da der Ironman doch spannender war, als erwartet. Mein Wecker riss mich am Sonntag bereits um 06:25 Uhr wieder aus dem Schlaf. Ich zog mir direkt meine Lauf-Montur an, kochte mir einen schnellen Instant-Kaffee und räumte die letzten Sachen zusammen. Um 06:55 Uhr saß ich dann im Auto und war auf dem 1,5-stündigen Weg nach Essen.
Dieses Mal fuhr ich alleine zu dem Marathonlauf, da meine Freundin zeitgleich ein Fußballspiel in der Heimat haben sollte. Wir vereinbarten also, dass wir uns am späten Nachmittag bei ihren Eltern in Laggenbeck treffen, sodass ich am Abend bequem im Flixbus von Osnabrück nach Hamburg zurückfahren und mein Auto dort stehen lassen kann. So viel zum Organisatorischen.

Um 08:35 Uhr erreichte ich die Freiherr-vom-Stein-Straße in der Nähe des Baldeneysees, fand einen Parkplatz direkt an der Straße und schlenderte anschließend zur Startnummernausgabe. Was mir dann auffiel, ist, dass ich fast 1,5 km vom Startgelände entfernt parkte. Das ist extrem viel, wenn man bedenkt, dass ich vor dem Start nochmal zurück musste, um meinen noch nicht vorhandenen Kleiderbeutel mit meinem Duschzeug zu füllen. So kamen vor dem Startschuss noch mindestens 4,5 km Fußmarsch zusammen.

Weitere Verwirrung entstand durch meine etwas verkorkste Voranmeldung. Denn mit meinen Startunterlagen für die Nr. 1112 war kein Leihchip für die Zeitmessung hinterlegt worden. Somit brauchte ich zeitnah eine andere Nummer und die Wahl fiel auf 806 – auch gut.

Das Warmlaufen entfiel heute aufgrund der Märsche und auch der Toilettengang war dementsprechend früh erledigt. Als ich wieder am Auto war, schnürte ich mir nochmal die neuen Laufschuhe Adidas Energy Boost 4, die bis heute erst vier Trainingsläufe (= 92,5 km) erlebt hatten.
Als alle Marathon-typischen Dinge erledigt waren – dazu zählen Klamottenbeutel-Abgeben, GPS-Signal-Finden, Doppelknoten-Machen und Körper-Dehnen – ging es für die Marathonis, Staffelläufer und Seerunden-Läufer (17,2 km) auf einen etwa 10-minütigen Fußmarsch zum etwas abgelegenen Startpunkt. Dort angekommen blieben uns noch 15 Minuten und die Aufregung stieg spürbar.

Was war denn nun mein heutiges Ziel? Möchte ich im Bestzeit-Tempo starten (03:51 min/km) und schauen, wie lange es gut geht? Ein paar schnelle Konkurrenten schienen anwesend zu sein, sodass ich vielleicht nicht ganz allein unterwegs wäre. Oder doch lieber ein ruhigeres Tempo wie zuletzt in Winschoten (ca. 04:05 min/km)? Irgendwo dazwischen würde ich mich sicher einpendeln, dachte ich mir.
Nachdem ein paar Favoriten vorgestellt und kurz interviewt wurden – dazu gehörten der dreimalige Sieger der Jahre 2015-2017 Elias Sansar und der Sieger von 2007 Stefan Koch (02:17:17 Std.) – wurde schon der Countdown über eine elektronische Stimme abgespielt. Ich bekam komischerweise nichts davon mit und hörte nur plötzlich einen Schuss. Alle rannten los und ich hatte Glück, dass ich in der ersten Reihe stand und schnell aus dem Gewusel raus war.
Auf geht’s zu meinem Marathon Nr. 51 …!

© marathon4you.de
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Der Lauf

Von Beginn an liefen über 20 Läufer völlig wild drauf los und es bildete sich schnell eine sogenannte Perlenkette. Von sehr schnellen Läufern (03:05 min/km) bis zu den 4-min/km-Läufern waren viele vertreten, sodass ich dennoch hoffte, gleich eine nette Gruppe für mich zu finden. Der Start verlief über einen knapp 200 Meter langen, sehr leichten Anstieg hoch zur Freiherr-vom-Stein-Straße. Der breite Weg war von unzähligen bunten Laubblättern bedeckt und es herrschte ringsherum ein bezauberndes Herbstbild. Zudem strahlte die nimmermüde Sommersonne vom Himmel und kündigte einen goldenen Oktobertag an. Knapp 18°C hatten wir bereits.
Als wir an der großen Hauptstraße ankamen, liefen wir links runter zur Einfahrt des Regattahauses, bevor es an dieser vorbei weiter Richtung Westen ging. Hier war die Straße recht wellig, muss ich gestehen, obwohl ich mit einer absolut flachen Strecke gerechnet hatte. Aber noch waren die Beine ja frisch. KM 1 war erwartungsgemäß schnell (in 03:45 min) und ich orientierte mich recht früh an der führenden Frau, die hier eine Zeit deutlich unter 3 Stunden laufen wollte. Das passt ja auch mit meinem Ziel überein.
Auch bis KM 2 (in 03:54 min) liefen wir immer noch recht unsortiert über die breite, leicht wellige Hauptstraße. Ständig kamen vereinzelte Läufer an uns vorbeigelaufen und setzten sich recht schnell wieder von uns ab. Ich hatte früh das Gefühl, hier heute kaum etwas reißen zu können, obwohl die Ergebnislisten der Vorjahren mir anderes offenbarten: häufig wäre eine Top Ten-Platzierung im Gesamtfeld oder aber eine Top Drei-Altersklassenplatzierung für mich möglich gewesen.
Die folgenden zwei Kilometer wurden etwas abwechslungs- und zuschauerreicher, denn es wurde der süd-westlichste Punkt des Kurses durch den Stadtteil Essen-Werden umrundet (KM 3 und 4 in 03:50 min). Dabei wurde nicht nur die Ruhr überquert, sondern mittlerweile auch die dritte große Trommler-Band passiert. Ich wusste natürlich noch nicht, wie viele Trommler noch folgen würden, aber schon jetzt war es für mich der wohl Trommel-reichste Lauf in der Geschichte.

Allerdings fehlte uns noch die Nähe zum Baldeneysee. Der Protagonist des Tages ließ förmlich auf sich warten, könnte man sagen. Aber worum genau handelt es sich bei diesem See eigentlich? Genau genommen ist es ein S-förmiger Stausee, der seit 1933 den Fluss Ruhr auf einer Länge von 7,8 km aufstaut. Damit gilt es, heute 7,6 Milliarden Liter Wasser zweimal zu umrunden. Wenn man sich diese Zahlen einmal vor Augen führt, haben wir heute noch ein ganz schönes Stück Arbeit vor der Brust. Und zu allem Überfluss steht uns auf der ersten Runde noch ein etwa 4 km langes Pendelstück auf der B 227 bevor (KM 11 bis 19).

Aber zunächst mal ging es nach dem Durchqueren von Essen-Werden über eine kurze Rampe bei KM 4,5 rauf zur Baldeneysee-Promenade. Nun lag uns der See förmlich zu Füßen und die erste Umrundung konnte gestartet werden. In einer kleinen Gruppe von drei Leuten wechselten wir uns mit der Führungsarbeit gelegentlich ab und motivierten uns zu einigen sehr rasanten Abschnitten (KM 5 in 03:46 min, KM 6 und 7 in 03:45 min).
Der Streckenverlauf wies sehr langgezogene Kurven auf, sodass immer in Ruhe die Straßenseite gewechselt und die Ideallinie belaufen werden konnte. Neben regelmäßigen Kilometerschildern, die bisher immer mit meiner GPS-Uhr übereinstimmten, sollten alle 5 km Digitaluhren stehen. Auch das ist nicht üblich und gehört zum super Service dieser Veranstaltung.
Mittlerweile lagen schon zwei Getränkestationen hinter uns, an denen ich mir jeweils einen Becher Wasser gegriffen hatte. Ich merkte, dass ich durch das hohe Tempo mehr durch den Mund atme und dieser dadurch schneller austrocknet. Zudem soll es im Tagesverlauf noch deutlich wärmer werden; frühes Trinken war somit unheimlich wichtig.
Etwa bei KM 8 (in 03:47 min) erreichten wir das Haus Scheppen, ein Restaurant und Biergarten in unmittelbarer Nähe zum See, wo unter anderem eine von drei Staffelwechselzonen eingerichtet war. Hier moderierte uns jemand über Mikro und Lautsprecher an, was natürlich für einen kleinen Motivationsschub sorgte. KM 9 (in 03:48 min) und KM 10 (in 03:49 min) lagen somit immer noch im Bereich des extrem hohen Anfangstempos, fühlten sich aber noch recht gut an. Jedoch hatte ich ein flaues Gefühl im Magen und auch die Oberschenkel waren unerwartet fest. Hatte ich zu viele Trainingskilometer in dieser Woche abgespult? Bin ich zu schnell gestartet? Beide Fragen muss ich wahrscheinlich mit „Ja“ beantworten, aber wie heißt es so schön: ‚Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!‘
Im äußersten Süd-Osten der Route stand uns eine erste kleine Hürde bevor: die Überquerung des Baldeneysees über eine alte, etwa 150 m lange Eisenbahnbrücke. Hierfür musste die Brücke zunächst unterquert werden, bevor es in einer spiralförmigen Rechtskurve zu dieser hinaufging. Im Vorbeilaufen nahmen wir die dortige Verpflegungsstation mit und wurden abermals von einem Moderator enthusiastisch angekündigt. Oben an dem kleinen Bahnhof Hespertalbahn angekommen ging es auf die Brücke, die mit alten Brettern ausgelegt war. Da diese recht schmal war und uns Spaziergänger und Radfahrer entgegenkamen, war es für alle Beteiligten keine ungefährliche Situation. Entsprechend vorsichtig mussten auch wir Läufer sein (KM 11 in 03:57 min).

Auf der nördlichen Uferseite verlief die Strecke auf der 1. Runde einmalig gen Norden auf das angekündigte Wendepunktstück zu. Der erste Kilometer hiervon führte uns über den schmalen Weg namens „Stauseebogen“. Aufgrund vieler Bäume um uns herum schien meine Uhr hier kurzzeitig das GPS-Signal verloren zu haben, sodass der 12. Kilometer etwas länger angezeigt wurde (in 04:02 min). Die knapp 100 Meter extra schleppte ich fortan mit, sodass meine Uhr immer erst hinter den Kilometerschildern piepte.
Der nächste Kilometer Richtung Wende verlief leicht ansteigend über die Wuppertaler Straße (KM 13 in 03:49 min) und passierte eine weitere Verpflegungsstelle. Hier, dachte ich mir, werde ich auf dem Rückweg das erste meiner zwei Energiegels zücken. Wenn bis dahin alles glatt läuft, würden es heute ausnahmsweise mal zwei Gels werden, die ich zu mir nehme.
Die folgenden 2 km auf dem Weg zur Wende führten über die nur für uns gesperrte B227. Es war zwar ein tolles Gefühl, auf einer solch großen Straße laufen zu dürfen, jedoch brannte hier die Sonne ordentlich auf den Kopf. Zum Glück brauchten wir dieses Stück nur einmal absolvieren (KM 14 in 03:46 min und KM 15 in 03:49 min). Ein Vorteil war natürlich, dass man schauen konnte, wo die Konkurrenz lag. Während die Führungsgruppe knapp 2 km vor mir war, sah ich, dass deren unmittelbaren Verfolger weniger geworden sind. Unter anderem fehlte der Mitfavorit Stefan Koch. Leider hatte ich vergessen, meine Position mitzuzählen, aber vermutlich lag ich bereits im Bereich der Top-10. Stark!
Noch durfte ich mich nicht zu früh freuen, denn nachdem auch ich die Wende absolviert hatte, sah ich eine große Anzahl Läufer direkt hinter mir her laufen. Alle sahen wild entschlossen und höchst professionell aus und doch wusste ich, dass nur die wenigsten ihr jetziges Tempo halten könnten. Gehörte ich zu diesen?

Auf dem Rückweg zum Baldeneysee strahlte mir die Sonne mitten ins Gesicht. Leider hatte ich keine Sonnenbrille oder Cappy mitgenommen, sodass ich die Augen etwas zusammenkneifen und auf baldigen Schatten hoffen musste (KM 16 bis 18 in 03:50 min, 03:48 min und 03:46 min). Die Halbzeit fest im Blick wurde es vorerst wieder etwas schneller, zumal sich einer aus unserer Gruppe von uns löste und mit mehreren Metern Abstand vorneweglief. Ich ließ ihn zunächst ziehen und sammelte ihn dann bei der nächsten Getränkestation, vor der ich das besagte erste Gel zu mir nahm, wieder ein (KM 19 in 03:53 min).
So ging es jetzt hin und her: mal führte ich unsere Gruppe an, mal war es jemand anderes. Wir alle spürten, dass sich recht bald die Spreu vom Weizen trennen würde. Wer wird dem hohen Anfangstempo Tribut zollen müssen und wer nicht? Jeder noch so kleine Anstieg war für uns alle spürbar, so auch bei KM 20 (in 03:57 min).
Erst als wir wieder auf der recht flachen Uferpromenade waren, ging es flott weiter (KM 21 in 03:52 min). Die Halbmarathon-Marke passierte ich bei 01:20:26 Stunden, was wirklich sehr schnell war. Sollte ich dieses Tempo halten können, ist eine Zeit von Sub-02:41 möglich. Wahnsinn!
Auf dem weiteren Weg Richtung Start-Ziel-Gelände wurden nicht nur eine kleine Siedlung und eine weitere Staffelwechsel-Zone durchquert, sondern auch viele Seerunden-Läufer überholt, die die Zusatzschlaufe nicht gelaufen sind. Das machte das Laufen mancherorts etwas unruhig, denn die Wege waren meist zu schmal, als dass rechts oder links noch Platz wäre. Leider haben es manche Läufer noch nicht so recht drauf, eine Gasse für die Schnellen zu lassen (KM 22 bis 24 in 03:49 min, 03:51 min und 03:53 min).
Während die Seerunden-Läufer bei KM 24,5 links in ihren Zielkanal abbogen, durften wir weiter geradeaus laufen und hatten wieder unsere Ruhe. Diese Ruhe war Fluch und Segen zugleich, denn spätestens jetzt war der Kampf gegen die Uhr gestartet. Vor mir klaffte eine große Lücke zu dem Enteilten und hinter mir hörte ich auch keine Schritte mehr (KM 25 in 03:51 min).
Als es zu Beginn der 2. Runde wieder auf den leicht welligen Abschnitt von heute Morgen zuging, machte sich dieses in meinen Kilometerzeiten bemerkbar (KM 26 in 03:55 min und KM 27 in 04:00 min). Jeder Anstieg, so kurz er auch war, tat weh und hätte mich beinahe dazu gebracht, mein Gesamttempo zu drosseln. Bloß nicht! Bis KM 30 will ich noch durchhalten, denn dann gibt’s das zweite Energiegel, dachte ich mir.

Ein zweites Mal in Essen-Werden angekommen (KM 28 in 03:58 min) waren bereits zwei-drittel hinter mir. „Bereits“ oder „erst“? Ich wusste nicht so recht, welche Formulierung ich wählen sollte. Für eine Portion Extramotivation sorgte zu diesem Zeitpunkt aber ein Konkurrent, den ich wieder einholen und sogar überholen konnte. Es war der Flotte aus unserer vorherigen Gruppe, der zuvor von seinem Trainer zugerufen bekommen hat, wir anderen würden ja bald einbrechen. Haha, nichts da „einbrechen“. Mit erhobenem Haupt und vorgestreckter Brust zischte ich förmlich an ihm vorbei (KM 29 in 03:49 min). Ein geiles Gefühl!
Da er keine Anstalten machte, mir zu folgen, ließ auch ich wieder etwas federn und pendelte mich bei einem Schnitt knapp unter 4 min/km ein (KM 30 in 03:55 min). Fortan brauchte ich neue Motivation und kleine Zwischenziele. Ich nutzte eine Methode aus meinem Training, die ich „Guthaben-Sammeln“ nenne. Diese funktioniert folgendermaßen:
Mal angenommen, ich möchte Bestzeit laufen, wie schnell muss jeder einzelne Kilometer bis ins Ziel mindestens gelaufen werden? Ich kurbelte schnell meine grauen Zellen an und kam ungefähr auf 04:00 min/km. So schnell musste ich mindestens sein, um meine fast drei Jahre alte Bestzeit (02:43:50 Stunden) zu knacken. Von nun an rechnete ich auf den verbliebenen 12 km mit und merkte mir pro Kilometer die Differenz in Sekunden, sofern ich weniger als 4 min brauchte. Auf diese Weise sammelte ich eine Art zeitliches Guthaben. Also los geht’s!
Bei KM 31 (in 03:56 min) hatte ich schon 4 Sekunden auf meinem Guthaben und einen Kilometer später kamen 8 weitere Sekunden hinzu (KM 32 in 03:52 min). So durfte es gern weitergehen!
In der Zwischenzeit hatte ich mein zweites Gel gezückt und war somit durch weitere Kohlenhydrate gestärkt. Die letzten 10 km standen mir nun bevor und für diese erhielt ich einen persönlichen Radbegleiter. Welch ein Luxus, denn unter den Führenden war ich gewiss nicht.
Bei KM 32,5 wurde es in der Staffel-Wechselzone nochmal richtig laut, denn hier warteten die Läufer auf ihre entsprechenden Teammitglieder. Der Moderator kündigte mich derweil als derzeit Sechstplatzierten an, wow! Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet und war euphorisch und ehrfürchtig zugleich. Jetzt bloß keinen Einbruch erleben, Patrick! Der Mann mit dem Hammer darf gern zu Hause bleiben.
Auch wenn die Kilometer nun stetig langsamer wurden, hatte ein ich fixes Ziel vor Augen: mein Sekunden-Guthaben (KM 33 bis 35 in 03:53 min, 03:58 min und 03:55 min). Auf den ersten 5 km hatte ich somit schon 26 Sekunden gesammelt. Jetzt nicht nachlassen. Meine offizielle Radbegleitung sorgte indessen für die Ideallinie, indem er entgegenkommende Radfahrer warnte und mit Handzeichen zur Seite bat. Hier und da gab es böse Kommentare, aber das ist in einem Land wie Deutschland ja normal.
Bei KM 36 (in 03:57 min) war sogar eine besonders brenzlige Situation, da hier ein Rennradfahrer über die schmale Eisenbahnbrücke geschossen kam. Es flog sogar das böse Wort mit „A…“. Ich schüttelte nur den Kopf und versucht, mich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.
Nach der Überquerung des Baldeneysees hatte ich nur noch gut 6 km vor mir. Zähne zusammenbeißen, Patrick, heute ist Dein großer Tag! Solche Sprüche schwirrten mir durch den Kopf und ich brauchte sie mehr denn je. Meine Beine waren hart wie Stein, locker ging gar nichts mehr, das sah auch mein Radbegleiter. Er versuchte mich ebenfalls zu motivieren und sagte Sätze wie: „Super Tempo, das schaffst du, nicht mehr lang!“
Auf den nächsten 4 km kamen weitere 20 Sekunden zu meinem bisherigen Guthaben von 29 hinzu, kaum zu glauben (KM 37 bis 40 in 03:55 min, 03:53 min, 03:54 min, 03:58 min). Die größte Motivation lieferte der Überholvorgang des Fünftplatzierten bei KM 38. Mein Radbegleiter empfahl mir, ihn zu überholen und möglichst bald abzuhängen. Ich jedoch entschied mich, ihn zu überholen, abzuklatschen und zum Folgen aufzufordern. Marathonlaufen ist auch eine Art Teamsport. Über die Distanz von 200 Metern hörte ich seine Schritte noch und dann musste er leider doch abreißen lassen.
Als das Dörfchen und die meisten überrundeten Marathonis hinter mir lagen, näherte sich die Digitaluhr bei KM 40, die mir eine Zeit von 02:34:40 Stunden anzeigte. Mir verblieben also noch 09:10 min bis zu meiner Bestzeit. Auf 2,195 km bedeutet das einen Schnitt von knapp 04:10 min/km. Das müsste ich schaffen, oder?
Hmm, plötzlich wurde ich unsicher und ich bekam es mit der Angst zu tun, dass ich mich irgendwie verrechnet hätte. Wo ist mein Guthaben geblieben? Normalerweise müsste ich noch fast eine Minute Puffer haben. Hilfe! KM 41 spulte ich in 04:02 min ab und auch das beruhigte meine Nerven nicht. Seitenstiche kamen hinzu, mir wurde beinahe schwarz vor Augen. Wozu die Quälerei, wenn ich am Ende knapp über der Bestzeit bleibe? Wozu das Ganze? Dann hätte ich auch entspannt 02:55 Stunden laufen können. Mist!
Einen Kilometer vor dem Ziel bog ich kurz links, dann wieder rechts ab und befand mich auf der Zielgeraden direkt am Wasser. Links der See und rechts das Publikum, eine Wahnsinnskulisse, wenn da nicht die Angst wäre … Etwa 500 Meter vor dem Ziel riskierte ich noch einen Blick auf die Uhr und erblickte die Erlösung: Ich hatte noch ganze 3 Minuten!

© Frank Pachura
© Frank Pachura

Hinter den Tribünen musste zweimal scharf rechts abgebogen werden, bevor die letzten 150 Meter bevorstanden. Jetzt durfte ich genießen, denn eine Zielzeit von unter 02:43 Stunden war locker drin. Jetzt erst kam der Genuss auf, nachdem 42 km Quälerei herrschte. Kaum zu glauben. Aber das Ergebnis ist es wert. ENDLICH nach fast 3 Jahren eine neue Bestzeit auf meiner Lieblingsdistanz!
Die Digitaluhr links neben dem Zielbanner offenbarte mir eine 02:42:43, als ich die Zeitmessmatte überquerte. Oberhammermegageil! Ich war einfach nur baff und konnte es noch nicht so recht glauben. Und das als Fünftplatzierter unter über 500 Finishern – Wahnsinn!

Nachher

 Im Nachzielbereich konnte ich gerade mal zu Atem kommen, schon stand der Kommentator vor mir und stellte mir eine Frage zur Strecke. Ich lobte diese, beschwerte mich aber gleichzeitig über die Hügel. Das kommt mir im Nachhinein wirklich komisch vor und ich weiß, dass ich das hätte besser sein lassen sollen, aber irgendwie war das meine erste Reaktion. Als Begründung zückte ich die Ausrede aller Ausreden: „Ich bin aus Hamburg.“
Nach diesem Kurzinterview wendete sich der Kommentator ab und widmete sich dem Sechstplatzierten, der 01:13 min nach mir ins Ziel kam. Ich gratulierte ihm noch schnell, bevor es mit Finisher-Medaille um den Hals zu meinem lang ersehnten Getränketisch ging, wo es neben drei Bechern Sinalco Cola gleich auch zwei Becher Krombacher Weizen Alkoholfrei gab. Erst dann stapfte ich zum Ausgang des Nachzielbereichs, wo ich den Leihchip in eine kleine Box warf.
Der erste Ort, den ich dann anvisierte, war die Gepäckaufbewahrung, wo ich recht schnell meinen Kleiderbeutel in Empfang nehmen konnte. Dort holte ich mein Handy heraus und rief zuerst meine Eltern an. Diese waren vor drei Jahren bei widrigen Verhältnissen am Streckenrand dabei und so sollten sie als eine der ersten von meinem heutigen Glück erfahren. Danach versuchte ich es vergeblich bei meiner Freundin, die scheinbar noch in den letzten Zügen ihres Fußballspiels war.

Der nächste Programmpunkt war das obligatorische Finisher-Foto mit Medaille, das ich einen Zuschauer in der Nähe der Tribüne machen ließ.
Danach folgten nochmal zwei weitere Becher alkoholfreien Bieres, bevor es endlich unter die Dusche ging. Diese befanden sich etwas abseits im angrenzenden Regattahaus im ersten Stockwerk, Treppensteigen inklusive. Merkwürdigerweise waren Umkleideraum und Duschen in zwei komplett separaten Räumen, zwischen denen man nur über einen langen Flur wechseln konnte. Aber was soll’s, dafür gibt es Handtücher.
Nach dem Duschen telefonierte ich dann auch endlich mit Sophie und teilte ihr voller Freude mit, wie es bei mir gelaufen ist. Im Detail konnte und wollte ich aber nicht alles berichten, dafür muss dieser Laufbericht herhalten.

Bevor die Siegerehrung pünktlich um 15:00 Uhr startete, las ich im Programmheft des diesjährigen Marathons und staunte nicht schlecht über die erzielten Ergebnisse der Vorjahre. Zum Beispiel war ich heute über 9 Minuten langsamer, als der Streckenrekord der Frauen (02:34:18 Std.), und sogar über 29 Minuten langsamer, als der der Männer (02:14:36 Std.).
Um 15:15 Uhr wurde auch ich zur Siegerehrung gebeten und erhielt als Altersklassen-Zweiter eine Urkunde, ein Sixpack Krombacher Radler Alkoholfrei, eine Sport-Trinkflasche und einen Runnerspoint-Gutschein über 50 €. Mega cool!
Ich freute mich riesig, da ich mit keinen derartigen Preisen gerechnet hatte. Mit einem großen Grinsen machte ich mich auf den langen Weg zurück zum Auto.
Unterwegs traf ich noch auf Frank Pachura, der in der Marathon-Szene bekannt für seine YouTube-Videos ist. Häufig nimmt er seine Kamera mit und filmt sich und die Umgebung, so auch heute. Ich sprach ihn kurz an, outete mich als Fan und teilte ihm mit, dass ich mich über jedes seiner Videos freue. Sein Einverständnis vorausgesetzt, habe ich ein paar Ausschnitte aus seinem Video genutzt, um diesen Laufbericht lebendiger zu gestalten.
Um 15:30 Uhr saß ich endlich im Auto auf dem Weg zurück nach Laggenbeck, wo ich um 17:10 Uhr eintraf und direkt von Sophie umarmt und beglückwünscht wurde. Kurze Zeit später gab es ordentlich was zu essen: ein warmgemachter Burrito vom Vortag und Lahmacun-Döner – LECKER!

Zahlen & Fakten

Distanz

 

Gelaufene Zeit (Netto)

 

Gelaufene Zeit (Brutto)

 

Altersklasse

 

AK-Platzierung

 

Platzierung (Männer)

 

Gesamtplatzierung

42,195 km

 

02:42:43 Std.

 

02:42:45 Std.

 

Männl. Hauptklasse (89-98)

 

2. von 35

 

5. von 417 (1,2 %)

 

5. von 517 (1,0 %)